Harald Welzer, Foto © Jens Steingässer

"Zur Fortsetzung der Moderne": Harald Welzer im Interview

Sozialpsychologe Harald Welzer, Distinguished Fellow 2019 des Kollegs Friedrich Nietzsche, im Interview über gesellschaftlichen Fortschritt in Zeiten des Klimawandels und moderne Utopien.

Herr Prof. Welzer, der Titel Ihrer Weimarer Auftaktvorlesung lautet „Es war nicht alles schlecht im Kapitalismus“. Was war denn gut und was war schlecht?

Das ist ganz einfach zu beantworten. Sehr gut war, dass sich die Lebensverhältnisse der Menschen in den kapitalistischen Ländern immer weiter verbessert haben, von den frühindustrialisierten, frühkapitalistischen Ländern bis heute fast über den ganzen Globus. Und schlecht daran war, dass das ganze auf einem extrem zerstörerischen Verhältnis zur Natur basiert, das gewissermaßen den Preis für die Steigerung des Wohlergehens der Menschen beinhaltet. Das ist das Problem.

Umweltzerstörung, Klimawandel, endliche Ressourcen. Wir alle wissen, dass es nicht weitergehen kann wie bisher. Trotzdem ändert sich wenig. Woran liegt das?

Das liegt erstmal daran, dass es ein Erfolgsmodell ist. Und das Verlassen eines Erfolgsmodells zugunsten eines experimentellen Vorgehens mit offenem Ausgang ist nichts, was Menschen gerne tun. Der andere Punkt ist, dass es manifeste wirtschaftliche Interessen gibt, Dinge nicht zu verändern, eingefahrene institutionelle Strukturen, Machtinteressen, Zweifel an der wissenschaftlichen Forschungslage von interessierter Seite. Generell muss man sagen: Wir befinden uns in der Entwicklungsrichtung einer unbedingten Steigerungslogik und alles was man jetzt tun müsste, wäre das genaue Gegenteil davon. Das ist schwer vorstellbar und schwer operationalisierbar.

Das ständige Aufbauen von Untergangsszenarien führt Ihrer Meinung nach auch zu einer gewissen Trotzhaltung. Menschen sagen sich: „So lange es noch geht, jetzt erst recht!“

Ja, oder es interessiert sie nicht. Sie müssen auch sehen, dass das apokalyptische und dystopische Gerede seit 50 Jahren eingepreist ist in die öffentliche Kommunikation. Menschen, die unter 40 sind, haben noch nie etwas anderes gehört, als dass wir am Abgrund stehen und dass es fünf vor zwölf ist und die Welt zugrunde geht. Aber das bildet sich überhaupt nicht in der Alltagserfahrung ab. Die Alltagserfahrung ist: Flatscreens, Smartphones, Reisen, schicke Autos, tolle Gebäude. Und dem gar nicht entsprechend gibt es ein routiniertes Gerede apokalyptischer Art. Wenn man zynisch wäre, würde man sagen, der Klimawandel hat den Status eines Partygesprächs. Er hat aber nicht den Status, in irgendeiner Weise wirksam für Entscheidungen zu sein.

Harald Welzer im Studienzentrum der Herzogin Anna Amalia Bibliothek

Harald Welzer bei einer seiner Vorlesungen im Studienzentrum der Herzogin Anna Amalia Bibliothek

Was kann man tun, um die Menschen zu motivieren, ihr Leben zu ändern?

Zunächst muss man nicht die Menschen motivieren, man muss Politikerinnen und Politiker dazu veranlassen, das Notwendige zu tun. Aber das kann nicht unabhängig von der Kultur funktionieren, die eine Gesellschaft entwickelt. Hier sind also auch die Menschen gefragt. Man muss sich tatsächlich einmal trauen, realistische Zukünfte zu entwerfen. Man muss ein gesellschaftliches Projekt denken können, in das Menschen sich einschreiben wollen, wo sie mittun wollen.
Das große Problem ist, dass gerade Gesellschaften unseres Typs völlig zukunftslos geworden sind und aufs peinlichste darum bemüht, den Status Quo zu erhalten. Dabei wäre es viel realistischer, vom gewohnten Pfad, der nicht funktionieren kann, abzugehen und etwas anderes zu versuchen.

Wie sehen die Alternativen aus, die Sie sich für die Zukunft vorstellen?

Da gibt es sehr viele. Grundsätzlich, und das ist das wichtigste, brauchen wir eine Wirtschaftsform, egal ob sie kapitalistisch ist oder nicht, die keinen Krieg gegen Natur führt, sondern in irgendeiner Weise ein versöhntes Verhältnis zur Natur realisieren kann. Das ist ein großes Vorhaben, es sind auch große Worte und sie sind vor allem deshalb so groß, weil kein Mensch weiß, wie das gehen soll.
Auf der anderen Seite wäre die Lebenssituation, in der wir uns heute befinden, für Menschen vor hundert Jahren eine unvorstellbare Utopie gewesen. Wenn sich diese Utopie realisiert hat, über alle Maßen hinaus, warum sollen wir nicht andere Utopien realisieren? Zumal wir als Bewohner einer extrem reichen Gesellschaft mit unglaublich großen Handlungsmöglichkeiten viel bessere Startvoraussetzungen haben, um Utopien zu realisieren als Angehörige von Generationen, die vorher gelebt haben. Also kann man es doch einfach machen

Was wäre ein solches utopisches Projekt?

Nun, wie alles im Leben wird das nicht für alle Leute attraktiv sein, aber eine sehr konkrete, extrem einfach umsetzbare Utopie mit sehr großen Effekten für die Lebensqualität wäre es, Autos aus den Städten rauszuschmeißen, ganz einfach. Nicht nur, weil man damit etwas zur Emissionsreduzierung tut – Sie gewinnen Raum zurück. Wir haben breite Diskussionen über extrem teuren Wohnraum und fehlende Flächen zur Bebauung, aber niemand diskutiert drüber, dass die Hälfte von Stadtflächen für Autos reserviert ist. Das Auto ist kein Verkehrsmittel des 21. Jahrhunderts, völlig egal, ob es fossil, elektrisch oder etwas anderes ist. Es passt nicht mehr in diese Welt. Und ohne Autos in den Städten hätten wir ein ganzes Kaleidoskop von Vorteilen: Sicherheitsvorteile, Bequemlichkeitsvorteile, fehlender Lärm, eine ganz andere Begegnungsqualität in der Stadt, reduzierte Emissionen und gleichzeitig nutzbare Flächen in einem ganz anderen Maße. So könnte man Stadt einmal wieder als einen Ort jenseits von Konsum oder Mobilität denken, als Lebensraum für Menschen. Das ist für mich eine ganz schlagende Utopie. Das ist natürlich in einem Land, das eine starke Autoindustrie hat geradezu eine Dystopie, die absolute Horrorgeschichte, aber die wird man umsetzen müssen und auch umsetzen können. Genau hier kann man zeigen, dass die Reduktion von Aufwand mit der Erhöhung von Lebensqualität ohne weiteres zusammengeht.

Bei allem, was ein einzelner Mensch tut – weniger fliegen, weniger Müll produzieren – ist die direkte Auswirkung auf den CO2-Ausstoß im Grunde gleich null. Das ist natürlich demotivierend. Wie kann man mit diesem Dilemma umgehen?

Nun, es ist völlig richtig, wenn man feststellt, mein individuelles Handeln macht keinen in irgendeiner Weise messbaren Unterschied. Aber es macht für einen selbst natürlich einen Unterschied. Ich nenne das „Gymnastik“. Man kann sich einen anderen Lebensstil gewissermaßen antrainieren. Und wie bei vielen Sachen, beim Sport oder beim Lernen eines Instruments, ist es zuerst ein bisschen doof, weil es anstrengend ist oder ungewohnt. Aber dann wird man besser darin und nach einer gewissen Zeit fragt man sich, wieso man nicht schon viel früher angefangen hat, es so zu machen. Auf der Ebene der Einübung einer anderen kulturellen Praxis, der Einübung anderer Lebensstile finde ich es sehr wichtig.
Tatsächlich ist es ja auch so, dass solche Impulse von unten kommen. Kann man anders wohnen, kann man sich anders ernähren, kann man auf andere Art Nahrungsmittel anbauen, kann man Unverpackt-Supermärkte haben? Das ist alles nichts, das von Politik oder Wirtschaft erfunden wird, diese Dinge kommen von Menschen, die gewissermaßen in dieser Gymnastik schon einmal vorgelegt haben. Deshalb ist der Stellenwert jenseits des Netto-Umweltnutzens , wie man es technisch nennen würde, ungeheuer groß. Weil es eine kulturelle Praxis ist und ohne Veränderung von Kultur bewegt sich Politik nicht. Gekoppelt mit entsprechenden Forderungen, dass nicht mehr diejenigen Unternehmen bevorzugt werden, die die Welt ruinieren, sondern diejenigen, die sie nicht ruinieren, kommt dann eine ganze Kaskade. Im Moment haben wir die fatale Situation, dass die Gesellschaft insgesamt viel weiter ist als die Politik. Das ist kein guter Zustand. Auf der anderen Seite: Dann gibt es eben Konflikte, dann gibt es Proteste, die sehen wir ja auch. Jetzt muss die Politik sich notwendigerweise bewegen.

Abonnieren Sie hier unseren Blog!

Mehr aus dem Kosmos Weimar:

„Religion und Imperium“: Hans Joas im Interview

Kosmopolitismus ist zu einer Konsumkategorie geworden:
Jürgen Osterhammel im Interview

5 Fragen an Gertrude Lübbe-Wolff

Ein Kommentar

  • Finde den Artikel gut. Herr Welzer übersieht aber die demokratische Dimension. Die Gesellschaft ist etwas weiter als die Politik. Zustimmung. Aber hier müssten auch politische Prozesse greifen, die es offensichtlich nicht tun. Partizipation und direkte Demokratie? Weit gefehlt. Solange die aktuelle Politbrut mit der Industrie und den Lobbyisten zusammenspannen, wird das vermeintliche Erfolgsmodell noch lange weiter leben. Die Analyse ist somit verfehlt. Der kulturelle Schwenker akzeptiert. Aber alternative Modell wären möglich. Entschleunigung und umweltbewusstes Handeln beissen sich nicht mit Profitstreben. Das ist eine Frage der korrekten ökonomischen Anreize und der Regulierung des Volkswirtschaftssystems. Somit wieder eine politische Dimension. Politik ist zentral. Danke für diesen Beitrag.

    Simon Patrick H. -