Torsten Unger: Johann Wolfgang von Goethe in Erfurt

Unterwegs mit Goethe durch Erfurt

Bei der ersten Begegnung mit Erfurt war die Stadt für ihn wohl nur eine Durchgangsstation. Das war 1765, als Johann Wolfgang von Goethes zum Studium nach Leipzig reiste. Zehn Jahre später und um so manche Erfahrung reicher kam er in höfischer Begleitung. Nach einer Jagd mit dem jungen Weimarer Herzog Carl August ganz in der Nähe brachten beide die Nacht »in Erfurt beim Statthalter zu«, wie ein Zeitgenosse berichtet. Gemeint war Karl Theodor von Dalberg, der seit 1772 das Bistum Mainz in der fernen Exklave repräsentierte und dort die kurmainzischen Rechte vertrat. Zu seiner Zeit kam Erfurt noch einmal zu geistiger Blüte, wie sie sich im später preußischen Erfurt nicht wiederholte. Selbst die Erinnerung daran verblasste zusehends, zumal sie in der DDR von der Fokussierung auf »revolutionäre Traditionen« überlagert wurde. Anlass genug für eine Monographie, wie sie der Journalist und Autor Torsten Unger jüngst vorgelegt hat.

»Die Stadt großer Begegnungen«

Erschienen ist der Titel »Johann Wolfgang von Goethe in Erfurt« in der Reihe »Stationen« des Heidelberger Morio Verlages. Unger erweist sich einmal mehr als kenntnisreicher Flaneur durch die Fülle des Materials, das er in einem kurzweiligen Streifzug bündelt und dabei so manche kulturgeschichtliche Schneise schlägt. Die Begegnung mit Dalberg im November 1775, wenige Wochen nach seinem Wechsel nach Weimar, sollte für Goethe zum Auftakt eines lebenslang positiven Verhältnisses zur Nachbarstadt werden.

Über 40 Mal kam er zu längeren Aufenthalten herüber – aus dienstlichem Anlass oder aber zu gesellschaftlichen Ereignissen. Zudem ist er ohne nennenswerte und dauerhafte Spuren unzählige Male durchgefahren oder durchgeritten. Das Fazit: Erfurt war für Goethe »die Stadt großer Begegnungen«. Folgerichtig kommt Unger zu dem Schluss, auch die heutige Thüringer Landeshauptstadt sei durchaus »eine Goethe-Stadt« – auch wenn der geneigte Besucher nicht viel davon spürt.

Goethe verlagerte alte Faust-Erzählung

Tatsächlich gibt es dort mehr zu entdecken als die übliche Stadtführer-Prosa. Im Faustgäßchen etwa wird Goethe gern im Zusammenhang mit dem legendären Doktor Faust erwähnt, der Heu in einen Halm und Zugochsen in Mäuse verwandelt haben soll, um die enge Gasse passieren zu können. Zu Goethes Menschheitsdrama nennt Unger ein anderes Detail: Nach einer alten Faust-Erzählung aus dem frühen 17. Jahrhundert ließ sich in der benachbarten Schlössergasse aus dem Tisch eines Wirtshauses Wein zapfen. Goethe stellte den Wirtshaustisch kurzerhand in Auerbachs Keller in Leipzig und machte damit das Erfurter Ereignis unsterblich.

Direkte Hinweise auf Erfurt findet Unger bei Goethe unter anderem im »Reineke Fuchs«, der sich selbst rühmt, er habe sich in der Stadt »wohl zur Schule gehalten« und »bei den Weisen, Gelahrten, und mit den Meistern des Rechtes Frage und Urteil gestellt«. Gemeint ist die Akademie der gemeinnützigen Wissenschaften von 1754. Sie hatte wie die Erfurter Universität einen ausgezeichneten Ruf und einst natürlich Goethe zum Mitglied.

Treffen mit damaligen Geistesgrößen

Der Weimarer Staatsmann und Dichter selbst fühlte sich nach eigenem Bekunden in der Nachbarstadt stets »wohlempfangen« und »wohlgelitten«. Von nachhaltigem Eindruck waren für ihn die wiederholten Begegnungen mit von Dalberg. Der studierte Jurist hatte auf einer Bildungsreise nach Rom Johann Joachim Winckelmann und gemeinsam mit ihm die Kunstschätze im Vatikan kennengelernt. In Erfurt war er zugleich Gesandter an den benachbarten Höfen Weimar und Gotha. »Für mich ist sein Umgang von viel Nutzen«, bekannte Goethe: »Durch die Erzählungen aus seinem mannigfaltigen politischen Treiben hebt er meinen Geist.« Unger erinnert daran, dass der Statthalter die Berufung Herders nach Weimar ebenso unterstützte wie die berufliche Förderung Schillers. Die 1786 von Dalberg begründeten Assembleen mit musikalischer Untermalung boten in der Statthalterei vielfältige Gelegenheiten zu Geselligkeit und Konversation, wie Unger schreibt: »Ob Handwerker oder Händler, Müller oder Minister, willkommen war jeder.«

Als weiteren markanten Treffpunkt damaliger Geistesgrößen rückt der Autor das allezeit offene Haus des Erfurter Kammerpräsidenten Carl Friedrich von Dacheröden in den Blick. Illustre Gäste neben Goethe und Schiller waren beispielsweise Wilhelm von Humboldt und der Komponist Johann Christian Kittel. Goethe war aber nicht nur Schöngeist, sondern auch weimarischer Staatsbeamter, weshalb er in Erfurt eine Behörde der von ihm geleiteten herzoglichen Wegebaudirektion unterhielt. Doch die Arbeit am »rothen Tische« im Obergeleitsamt kann so aufregend nicht gewesen sein. Offenbar fand er auch ausreichend Zeit und Muße, an Charlotte von Stein zu schreiben: »Schon seit sechs Jahren sind meine Gedanken oft in dieser Stube an dich gerichtet gewesen.«

Begegnung zwischen Goethe und Napoleon

In Ungers Monographie erfährt der Leser ferner von den regelmäßigen Gastspielen von Goethes Hoftheater ab 1790 in Erfurt – mit fünf Spielzeiten und immerhin bis zu 30 Aufführungen pro Saison. Dass zweihundert Jahre danach zwischen Weimar und Erfurt ein beispielloser verbaler Theaterkrieg toben sollte, wäre dem Meister wohl in den dunkelsten Momenten nicht in den Sinn gekommen. Erinnert wird auch an Goethes Begegnungen mit dem Erfurter Mineralogen und »Salinisten« Carl Christian Friedrich Glenck sowie an die (nicht mehr bestehende) Weinhandlung, die der Dichter gelegentlich bat, »die fehlenden Lücken meines Weinlagers schleunig auszufüllen«.

Breiten Raum nimmt bei Unger schließlich die Begegnung zwischen Goethe und Napoleon ein. Der selbsternannte Kaiser empfing den Dichterfürsten am 2. Oktober 1808 am Rande des Erfurter Fürstenkongresses. Unger: »Goethe bewunderte Napoleon als Politiker und Menschen, er war für ihn die personifizierte Vereinigung von Geist und Macht… Napoleons Bewunderung für Goethe dagegen galt dem Dichter, nicht dem Minister.«

Das legendäre Treffen ist längst ein Thema für Goethe-Exegeten unterschiedlichster Coleur. Und Erfurt als Goethe-Stadt, wie von Unger eingangs postuliert? Die Idee hat zweifellos Charme. Nicht zuletzt wegen der mehr oder weniger offen gelebten Nicht-Beziehung mit dem benachbarten Weimar, dessen Bedeutung für Goethe als »Stadt seiner großen Werke« für Unger außer Frage steht.

Torsten Unger: Johann Wolfgang von Goethe in Erfurt, Band 23 der Reihe Stationen, Morio Verlag Heidelberg 2016, 72 Seiten mit zahlreichen Abbildungen, ISBN 978-3-945424-44-5

Thomas Bickelhaupt

Thomas Bickelhaupt lebt und arbeitet seit über 40 Jahren als Journalist in Weimar. Er war u.a. tätig für die bundesweite Nachrichtenagentur Evangelischer Pressedienst (epd). Er hat mehrere Text-Bild-Bände zu Kulturlandschaften wie Thüringen, Thüringer Wald, Lausitz und Spreewald sowie zu den Städten Weimar und Erfurt veröffentlicht. 2009 erschien seine Dokumentation »Ein fernes Land« zur Alltagsgeschichte der DDR.