Sozialphilosoph Hans Joas. Foto: privat

»Religion und Imperium«:
Hans Joas im Interview

Sozialphilosoph Hans Joas, Distinguished Fellow 2018 des Kollegs Friedrich Nietzsche, im Interview über die Entstehung des moralischen Universalismus und die Sakralität der Person.

Herr Prof. Joas, was verstehen Sie unter »moralischem Universalismus«?

Ich möchte nicht mit einer Definition beginnen, sondern mit einer Beschreibung. Es ist nicht so, dass die Menschheit von Beginn an über den Begriff »Menschheit« verfügt hätte. Kollektive von Menschen wie Stämme haben sich nur im Unterschied zu anderen Kollektiven wahrgenommen. Insofern ist es ein historischer Entwicklungsschritt, wenn die Konzeption aufkommt, dass die anderen, die nicht zu uns gehören, auch Wesen wie wir sind, Menschen eben. Diese Vorstellung kann normativ aufgeladen werden. Der moralische Universalismus ist für mich diese normative Aufladung. Dass ich, wenn ich darüber nachdenke, ob etwas moralisch rechtfertigbar ist, nicht einfach nur betrachte, was gut für unseren Stamm, unser Volk, unseren Staat, unsere Religionsgemeinschaft ist, sondern gut für alle Menschen.

Also unter »moralischem Universalismus« verstehe ich religiöse oder philosophische Vorstellungen darüber, dass alle Menschen im Prinzip dieselbe Würde teilen. Und dass dieser Gesichtspunkt der von allen geteilten Würde bei allen Entscheidungen als normatives Kriterium zu berücksichtigen ist. Mein zentraler Punkt ist nun, dass der moralische Universalismus etwas historisch Entstandenes, nicht von Natur aus Gegebenes ist.

Wann taucht der moralische Universalismus zum ersten Mal auf?

Die Kurzantwortet lautet: In der sogenannten »Achsenzeit«. Das ist ein Begriff des deutschen Philosophen Karl Jaspers. Wann? Zwischen 800 und 200 vor Christus. Wo? Bei den antiken Griechen, im antiken Judentum, im antiken China und im antiken Indien. Warum? Das ist die Frage, vor der Karl Jaspers kapituliert hat.

Was für Jaspers noch mysteriös erschien, wird erklärbar, wenn man einen Zusammenhang herstellt zwischen den archaischen Imperien und bestimmten religiösen und philosophischen Reaktionen auf diese. Ein Beispiel: Wenn Sie an das Alte Testament denken, spielen dort mehrere große Reiche eine zentrale Rolle für die Geschichte des antiken Israel: Ägypten, Babylonien/Assyrien, Persien. Die Juden sind in Ägypten in Gefangenschaft, es gibt die babylonische Gefangenschaft, den Sieg der Perser. Man kann die Religionsgeschichte dort nicht verstehen, ohne die Auseinandersetzung damit und mit den damals aufkommenden Fragen: Haben die Feinde andere Götter, die stärker sind als unsere und uns deshalb besiegen? Oder gibt es nur einen Gott? Dann aber müssen wir erklären, warum dieser eine Gott es zulässt, dass wir besiegt oder versklavt werden.

Es gibt die Möglichkeit der Erklärung dieses Durchbruchs zum moralischen Universalismus in der Auseinandersetzung mit dem, was ich den politischen Universalismus dieser Imperien nenne. Diese Reiche wollten ja die Welt beherrschen. Wenn das aber so ist, haben die Völker, die davon betroffen sind, nur die Möglichkeit, kulturell überzugehen zu diesen Eroberern oder umgekehrt sich radikal dagegenzustellen, wie es zum Beispiel im antiken Judentum geschehen ist.

Es gibt also eine Art Geburtsstunde, aber nicht den einen Ort?

Genau. Das ist der Witz an Jaspers’ These. Man muss ihr nicht einschränkungslos zustimmen, aber er hat doch eine unheimlich produktive Frage aufgeworfen. Selbst wenn seine eigenen Antworten falsch sein sollten,  müssten wir bessere Antworten finden. Dann kommt die Frage: Wie ging es weiter?

Entstanden ist der moralische Universalismus als religiöses oder philosophisches Ethos, nicht als Recht. Und auch nicht als Versuch, die Rechtsordnung zu ändern. Ein Beispiel: Als ein Sklave zu Paulus flieht, schickt Paulus den Sklaven mit einem Brief zum Sklavenhalter zurück, in dem steht, er solle seinen Sklaven künftig anständiger behandeln. Er sagt nicht etwa, die Sklaverei müsse abgeschafft werden. »Sieh die Würde auch im Sklaven« – daraus wird nicht der Schluss gezogen, die Rechtsordnung müsse verändert werden.

Ich behaupte, jetzt überspringe ich fast 2000 Jahre, dass ein entscheidender weiterer Wandel im 18. Jahrhundert eintritt, mit den Versuchen, Menschenrechte rechtlich zu kodifizieren. Die dritte Ebene wird erst nach dem Zweiten Weltkrieg erreicht, als im Rahmen der Vereinten Nationen 1948 eine Allgemeine Erklärung der Menschenrechte verabschiedet wird. Die belässt die Menschenrechte nicht auf der Ebene des bloßen Ethos, belässt sie auch nicht auf der Ebene der Rechtsordnung eines einzelnen Staates, sondern versucht, eine transnationale Leitlinie für das Recht zu schaffen.

Gehen alle Formen des moralischen Universalismus auf Religion zurück?

Der Genese nach glaube ich, dass alle Formen des moralischen Universalismus religiös sind. Was es aber unzweifelhaft gibt, ist die Entwicklung nicht-religiöser Formen des moralischen Universalismus in der europäischen Geistesgeschichte seit dem 18. Jahrhundert. Ich möchte aus der Entstehungsargumentation nicht das Argument ableiten, dass nur der ein ehrlicher und moralischer Universalist ist, der religiös ist. Das würde viele heutige Menschen ausschließen, die ich überhaupt nicht ausschließen will. In meinen Büchern zur Geschichte der Menschenrechte habe ich das deshalb anders angelegt. Während es im Jahr 1700 in allen europäischen Staaten noch Folter als Bestandteil der Strafjustiz gibt, gibt es sie im Jahr 1800 in keinem europäischen Staat mehr. Wie kam es dazu? Dieser Wandel wird teilweise von religiös Gesonnenen, teilweise von anti-religiös Gesonnen angestoßen.

Im Hinblick auf die Kodifikation der Menschenrechte sprechen Sie von der »Sakralität der Person«. Was genau meinen Sie damit?

Sie müssen berücksichtigen, dass man bis 1900 gedacht hat, das Sakrale komme nur im Rahmen von Religionen vor. Ab 1900 ist das umgekehrt: Religionen werden als Versuche gedeutet, Sakrales zu systematisieren. Die Entstehung des Gefühls, dass etwas unantastbar sei, ist unabhängig von Religionen. Nehmen Sie das Folterverbot: Vorher empfanden die Menschen die Folter gewiss nicht als etwas Schönes, aber als etwas Notwendiges. Jetzt kommt immer mehr die Mentalität auf, dass der Verbrecher trotz aller seiner Untaten eine unantastbare Menschenwürde behält. Seine Taten nehmen von seiner Menschenwürde nichts weg. Das spielt sich auf der Ebene eines Mentalitätswechsels ab – religiöse Gedanken können eine Rolle gespielt haben, müssen aber nicht. Das nenne ich eine Verschiebung dessen, was als sakral empfunden wird.

»Sakralität« ist schwer in wenigen Sätzen zu erläutern. Ich will es aber versuchen. Die Menschen machen pausenlos Erfahrungen, fast alle davon sind trivial. Es gibt aber andere Erfahrungen, die Max Weber »außeralltägliche Erfahrungen« nennt. Mein Begriff dafür ist »Erfahrungen der Selbsttranszendenz«. Ich meine das in einem psychologischen Sinn: dass etwas passiert, bei dem ich das Gefühl habe, es reißt mich etwas über die bisherigen Grenzen meines Selbst hinaus. Es geht um etwas, das ich nicht gleich wieder vergesse, das ich intensiv erinnere; etwas emotional hoch Aufgeladenes. Ein Beispiel: Ein Besucher einer Vorlesung von mir kam einmal auf mich zu und sagte, er habe seine Frau bei einem Konzert kennengelernt und stelle fest, dass er die Eintrittskarte dieses Konzerts wegzuwerfen nicht übers Herz bringe. Genau so etwas meine ich. Der triviale Gegenstand hat sich emotional aufgeladen. Diesen Prozess der spontanen, nicht reflexiven Aufladung von Objekten, Personen oder Vorstellungsgehalten mit einem solchen unendlichen und intensiven Bedeutungsinhalt nennt man »Sakralisierung«.

Wie steht es denn heute um den moralischen Universalismus?

Ich habe noch nie zu denen gehört, die die rechtliche Kodifizierung der Menschenwürde für ihre endgültige Stabilisierung gehalten haben. Und deshalb finde ich, dass es sehr wichtig ist, dass dieses Ethos nicht nur Ethos bleibt, sondern auch Recht wird. Aber, dass wir uns auch bewusst sind, dass das Recht nur weiter existiert, wenn es durch Macht politisch gestützt ist. Und, dass zu dieser Machtstütze auch das Ethos wiederum dazugehört. Das heißt, es muss Leute geben, die sich dafür einsetzen. Ich persönlich glaube, dass massive Konfliktsituationen sofort zu Gefährdungen der Menschenrechtegarantien führen. Und ich fühle mich bestätigt durch Guantanamo und Abu Ghraib. Hier hat das tiefe Gefühl vieler Amerikaner, gefährdet zu sein, rasch zu einer massiven Relativierung geführt, gerade in Bezug auf die Frage, ob auch ein Terrorist Anspruch auf Respekt vor seiner Menschenwürde hat. Und ich glaube nicht, dass das eine Eigenheit der Amerikaner ist.

Wünschen Sie sich, dass die Politik den moralischen Universalismus stärker als Handlungsgrundlage nimmt?

Ich bin überzeugt, dass Staaten eigene Interessen haben und dass die Repräsentanten von Staaten zur Berücksichtigung der eigenen staatlichen Interessen auch verpflichtet sind. Deshalb geht es darum, institutionelle Formen für diese Moralität zu schaffen und nicht selektiv Staaten zu moralisieren. Deshalb bräuchte es ein internationales Menschenrechtsregime. Aber es ist ungeheuer wichtig, dass dieses nicht als verlängerter Arm beispielsweise der amerikanischen Außenpolitik oder der NATO empfunden wird. Es gibt diese Versuche im Rahmen der Vereinten Nationen, wir haben auch nominell ein Instrument der internationalen Strafgerichtsbarkeit, aber eine faktische Machtverteilung, die so ist, dass die wirklich mächtigen Länder dort nie zur Verantwortung gezogen werden können.

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