Ausschnitt aus Joseph Anton Koch, Francesca und Paolo, von Gianciotto Malatesta überrascht, 1809, Kohle, schwarze Tusche, weiß gehöht, Graphische Sammlungen Weimar, © Klassik Stiftung Weimar

Ausschnitt aus Johann Heinrich Füssli d. J., Dante in seiner Studierstube, 1778/79, Feder in Braun und Graphit auf Papier, Graphische Sammlungen Weimar, © Klassik Stiftung Weimar

Ausschnitt aus Opere / Di Dante Alighieri, Venezia : Antonio Zatta, 1758 © Klassik Stiftung Weimar

Opere / Di Dante Alighieri, Venezia : Antonio Zatta, 1758 © Klassik Stiftung Weimar

Dantes »hermetischer« Schlüssel

Dante Alighieri schrieb nicht nur die »Göttliche Komödie«. In der »Vita Nova« besingt der junge Dichter in 25 Sonetten, einer Ballade und vier Kanzonen seine langjährige Liebe zu Beatrice. Wie leicht zugänglich diese Gedichte auch heute noch sind, zeigt ein Essay von Franz Löbling über das Sonett »Spesse fiate«.

Aus: Alighieri, Dante: Vita Nova – Das Neue Leben. Übersetzt und kommentiert v. Anna Coseriu und Ulrike Kunkel. Deutscher Taschenbuch Verlag, München 1988, S. 44-45.

Aus: Alighieri, Dante: Vita Nova – Das Neue Leben. Übersetzt und kommentiert v. Anna Coseriu und Ulrike Kunkel. Deutscher Taschenbuch Verlag, München 1988, S. 44-45.

Lesen Sie noch? Liebeslyrik aus dem späten 13. Jahrhundert steht heute nicht gerade hoch im Kurs, ich weiß. Wo Nora Gomringer den Ingeborg-Bachman-Preis gewinnt, kann der Dante-Freund bestenfalls auf eine besorgt erhobene Augenbraue hoffen. Metrum, Reime, mythologische Allegorien – das passe nicht in die Zeit, sagt man ihm.

Zu künstlich, sagt man ihm. Zu viel, zu dicht, zu zu. »Hermetisch!«, erinnern sich manche triumphierend.

Ein Wort, das ursprünglich eine Strömung der Nachkriegslyrik bezeichnete. Hauptvertreterin: Ingeborg Bachmann. Seltsam, diese Zufälle.

Doch was vielen bei Dante offenbar so »hermetisch« anmutet, ist durchaus kein Geheimcode, den nur studierte Romanisten knacken können. Es ist überhaupt kein Code, keine antike Chiffre, kein Schloß.

Metrum, Reime und mythologische Allegorien sind der Schlüssel zum Verständnis eines Gedichts.

Freilich, etwas fremd in der Hand wirkt er, etwas rostig – aber er funktioniert noch. Man muss ihn nur drehen.

Ausschnitt aus Johann Heinrich Füssli d. J., Dante in seiner Studierstube, 1778/79, Feder in Braun und Graphit auf Papier, Graphische Sammlungen Weimar, © Klassik Stiftung Weimar

Ausschnitt aus Johann Heinrich Füssli d. J., Dante in seiner Studierstube, 1778/79, Feder in Braun und Graphit auf Papier, Graphische Sammlungen Weimar, © Klassik Stiftung Weimar

Erste Drehung: Mythologische Allegorie

Warum denn »Amor«, wenn man »Liebe« schreiben kann? Fragen dieser Art lassen Lyrikkennern meist die Haare zu Berge stehen. Es gehe doch um die Freude am Spiel mit der Sprache, um kunstvoll klangliche Umschreibungen. Das stimmt zum Teil, aber würde sich Lyrik darauf beschränken, wäre es eine sehr einseitige Gattung.

Wer daher fragt, warum hier »Amor« und nicht »Liebe« steht, ist dem Grundprinzip von Poesie schon sehr nahe:

Jede Abweichung von der Norm hat ihren Grund.

Und für die Verwendung »Amors« in »Spesse fiate« lassen sich gleich zwei Gründe anführen. Zunächst formal: Blickt man auf das italienische Original, springt das Wort »Amor« sofort ins Auge.

Das liegt einerseits daran, dass im Italienischen nur Satzanfänge und Eigennamen großgeschrieben werden, andererseits daran, dass der Gott zweimal kurz hintereinander in der gleichen Wortkombination »ch’Amor« erscheint. Durch diese prominent gesetzte Schlagwortwiederholung ist das Gedicht für jeden thematisch sofort einzuordnen. Suchmaschinenoptimierung um 1293 nach Christus.

Der inhaltliche Grund für die Verwendung »Amors« ist die – Verzeihung! – eindeutige Zweideutigkeit des Gottes.

Während »Liebe« in unserem Sprachgebrauch eine primär positive Bedeutung hat, schwirrt uns bei der Erwähnung »Amors« sofort der kleine, dicke Junge mit Pfeil und Bogen durch den Kopf, dessen Geschosse schmerzhaft das Herz durchbohren.

Lesen wir dann in den ersten beiden Versen von »düsteren Eigenschaften«, die Amor beschere, ist sofort klar, dass »Spesse fiate« wohl eher von den unannehmlichen Seiten der Liebe handelt.

Ausschnitt aus Opere / Di Dante Alighieri, Venezia : Antonio Zatta, 1758 © Klassik Stiftung Weimar

Ausschnitt aus Opere / Di Dante Alighieri, Venezia : Antonio Zatta, 1758 © Klassik Stiftung Weimar

Zweite Drehung: Reime

Ein Sonett. Das weckt unangenehme Erinnerungen an Deutschstunden: Aabb – Paarreim, abab – Kreuzreim. Schön zu wissen. Aber hilft das beim Verstehen des Gedichts? Ziemlich. Tatsächlich ist diese Erschließungsmethode so simpel wie effektiv. Zum Beweis ein kurzer Blick auf das Reimschema von »Spesse fiate«: abab, abab, cde, cde Die Reime spalten das Gedicht in zwei Teile.

Da in der Lyrik Form und Inhalt ein geradezu symbiotisches Verhältnis eingehen, ist das ein Wink mit dem Zaunpfahl! »Abab« und »cde« bilden zwei unterschiedliche Sinnabschnitte.

Im »abab«-Teil wirkt Dante völlig passiv, halbtot von sich ständig erneuernden Herzensqualen. Beatrice ist außerhalb seiner Reichweite und nur der Gedanke an sie hält ihn am Leben. Das einzige, was Dante hier tun kann, ist, die eine typische Frage zu stellen: »Weh! geschieht dies sonst noch irgendwem?« Wenn sich nun der »cde«-Teil von »abab« unterscheiden soll, müssten wir in den kommenden Versen etwas mehr Aktion erwarten dürfen.

Und tatsächlich: Dante macht sich zu Beatrice auf, im Glauben, ihr Anblick würde ihm helfen.

Opere / Di Dante Alighieri, Venezia : Antonio Zatta, 1758 © Klassik Stiftung Weimar

Opere / Di Dante Alighieri, Venezia : Antonio Zatta, 1758 © Klassik Stiftung Weimar

Dritte Drehung: Metrum

Ach, die Metren und ihre angebliche interpretatorische Bedeutung. Klar wirkt ein Jambus dynamisch, wenn man ihn mit »Es schlug mein Herz geschwind zu Pferde« kombiniert. Leider taucht er aber auch in Versen wie »Der Wald steht schwarz und schweiget« auf, wo er dann doch eher behäbig anmutet.

Nein, das Metrum ist vor allem dort wichtig, wo es gebrochen wird. Wenn, wie in »Spesse fiate«, Verse über eine längere Strecke elf Silben haben, fällt es im Leserhythmus auf, wenn plötzlich einer mit zwölf dabei ist. Beispiel: der vorletzte Vers »nel cor mi si comincia uno tremoto«.

Was ist passiert? Dante erblickt Beatrice; in seinem Herzen bricht ein Beben an.

Gut, ein wenig Aufregung beim Anblick der Geliebten ist nur natürlich. Was nicht natürlich ist, sind die zwölf Silben dieses Verses. Das Beben, das Dantes Herz aus dem Rhythmus bringt, zerrüttet gleichzeitig den elfsilbigen Rhythmus des Gedichts. Furchtbares bahnt sich an. Und tatsächlich führt dieses Beben sowohl zum Ende von Dantes Leben als auch zum Ende des Gedichts.

Ausschnitt aus Joseph Anton Koch, Francesca und Paolo, von Gianciotto Malatesta überrascht, 1809, Kohle, schwarze Tusche, weiß gehöht, Graphische Sammlungen Weimar, © Klassik Stiftung Weimar

Ausschnitt aus Joseph Anton Koch, Francesca und Paolo, von Gianciotto Malatesta überrascht, 1809, Kohle, schwarze Tusche, weiß gehöht, Graphische Sammlungen Weimar, © Klassik Stiftung Weimar

Das war’s? Nein, durchaus nicht. Unsere drei »hermetischen« Ansätze bringen uns nur so weit.

Die Allegorie erschloss uns das Thema des Sonetts, die Reime zeigten uns den Aufbau und das Metrum markierte besondere Umbrüche. Wir haben gemeinsam den Schlüssel im Schloss umgedreht, die Tür ein klein wenig aufgeschoben, aber hindurchgehen müssen Sie allein. Zumindest, wenn Sie wissen wollen, warum der Anblick Beatrices Dante hier das Leben raubt, statt die erwartete Rettung zu bringen.

Ein kleiner Tipp dazu: Schauen Sie wie Dante nach oben. Vielleicht sehen Sie die Sterne.

»un altro viaggio« – Dante, eine Einführung

MelosLogos 14 – Poetische Liedertage in Weimar zu Dantes »Divina Commedia«