Hellmut Seemanns Rede
zum Jahresempfang 2018
Erbgroßherzogin Maria Pawlowna, deren 232. Geburtstag wir heute begehen, ist bereits 32 Jahre alt, als sie von ihrem vierten Kind entbunden wird, ein fortgeschrittenes Alter, weswegen Hof und Gesellschaft der Kunst des Arztes das Verdienst daran zuweisen, dass alles gutgegangen ist. Die Geburt des Kindes fällt auf den 24. Juni, den Johannistag, wichtiger indessen ist, dass es ein Knabe ist. Denn der erste Kronprinz war zwölf Jahre zuvor schon im Kindbett verstorben. Es folgten Marie 1808 und Augusta 1811, aber ein Prinz blieb, zur wachsenden Beunruhigung der Eltern und des Hofes, lange aus. Erleichterung also allerorten: Die Erbfolge war gesichert. Der Retter der Dynastie wurde alsbald auf die Namen Carl Alexander August Johann getauft: Carl verweist ein bisschen auf den Vater Carl Friedrich, Alexander auf den Onkel, den Zaren von Russland, August macht klar, dass sich schon der erste Name Carl eigentlich auf den noch immer regierenden Großvater Carl August bezieht, und bei Johann ist der Patron des Tages der glücklichen Geburt aufgerufen – wobei die erleichterten Eltern gewiss zugleich an Johann III. von Sachsen-Weimar dachten, der an der Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert lebte und Ihnen vermutlich nicht viel bedeutete, von dem aber alle Nachkommen der vielfach verzweigten ernestinischen Linien abstammen – und so eben auch dieser heiß ersehnte Prinz. Alle sagen Carl Alexander, um ihn von seinem Vater und seinem Großvater, die ebenfalls Carl heißen, zu unterscheiden. Mit 24 Jahren heiratet Carl Alexander seine Cousine, die niederländische Prinzessin Sophie, was ich nur deshalb an dieser Stelle erwähne, weil Sie nur so erkennen können, wie dynastisch sattelfest die Weimarer bis heute sind: Bei ihnen war Karl im Jahr 2017 der beliebteste Jungen- und Sophie der beliebteste Mädchenname. Der Thüringischen Landeszeitung – und das wollen wir ihr auch gern einmal glauben – konnte ich entnehmen, dass sich darin ein Trend widerspiegelt, der nur für Weimar gilt, dem weder die Region noch die Nation gefolgt sind. Weimar ist großartig und einzig.
Weder die allseitige Freude über die Nachricht seiner Geburt vor 200 Jahren noch die populäre Identifikation Weimarer Bürger im Jahre 2017 ändern indessen etwas daran, dass Großherzog Carl Alexander im Weimarer Stadtbild vollständig verschwunden ist. Das von ihm erbaute ›Großherzogliche Museum‹ heißt Neues Museum, die Carl-Alexander-Allee Freiherr-vom-Stein-Allee und das ihm 1907 errichtete Reiterstandbild auf dem Goetheplatz ist auf einen Granitsockel reduziert, der eine seltsame, vielleicht aber nicht unpassende Memoria für einen Fürsten stiftet, der sich gegen den Mangel und Makel, nur Epigone zu sein, dadurch immunisierte, dass er eben dies zu seiner Lebensmaxime erhob, wenn er ausrief:
»Wohl mir, dass ich ein Enkel bin«
Als er am 5. Januar 1901 stirbt, sind sich die Zeugen dieses Ablebens einig: Hier ist eine Epoche zu Ende gegangen. Der wie immer fürchterlich bramarbasierende Ernst von Wildenbruch, der seinen Nachruf mit dem Hinweis darauf beginnt, dass die Lebenszeit Goethes von der Carl Alexanders nur um 13 Tage abweicht, kommt gleich zur Sache:
»Eine Zeit geht zu Ende – das Gefühl wird jeder mit mir teilen, der den Großherzog Carl Alexander gekannt hat, denn er stellte in seiner Persönlichkeit einen Zeitabschnitt dar, verkörperte in sich das Bewusstsein dieser Zeit.«
Und weiter: Der Tradition seines Hauses
»mit allen Kräften zu dienen, erschien ihm als Pflicht und Lebensaufgabe, als Lebensaufgabe, in der er seine Individualität aufgehen ließ ohne Vorbehalt und ohne Rest.«
Noch 1935 fasst Edwin Redslob seine Kindheits- und Jugenderinnerungen an diesen Fürsten, dessen Schwester die erste deutsche Kaiserin und der selbst Enkel, Neffe, Vetter und Onkel von diversen Zaren gewesen ist, in den Titel ›Der letzte Grandseigneur‹ zusammen. Als Repräsentant und letzter seiner Epoche können wir Carl Alexander im Jahr seines 200. Geburtstages für einen Moment aus der Vergessenheit reißen, um dann mit allen zur Verfügung stehenden Segeln in das kommende Jubiläumsjahr aufzubrechen, in dem wir den 100. Geburtstag des Bauhauses feiern wollen. Auf diese Weise würde Carl Alexander, liebenswürdig in sein Jubiläumskästchen verpackt, ein weiteres Mal entsorgt. Aber die eigentliche Frage, die sich mit seiner Person für eine Einrichtung wie die Klassik Stiftung verbindet, würden wir auf diese Weise gleich mit entsorgen, anstatt uns ihr zu stellen.
Welche Frage meine ich? Es ist die Frage nach uns, also die Frage nach der Identität einer Stiftung, die sich Klassik Stiftung nennt und damit ausdrückt, dass sie als Quellen-Institut für die Epoche um 1800 ein kulturelles Erbe erhält und damit den Anspruch verknüpft, dass diese seit langem historische, d. h. in der Vergangenheit liegende Epoche, auch für die Gegenwart des Jahres 2018 Botschaften bereit hält, die relevant sind für die Orientierung in einer höchst unübersichtlichen Gegenwart. Was ich hier skizziere, ist keineswegs das anspruchsvolle Selbstbild unserer Stiftung, es ist vielmehr die Erwartung, in die sich diese Stiftung gestellt sieht: Der soeben unterzeichnete Koalitionsvertrag, der die Grundlage einer neuen Bundesregierung zwischen CDU, CSU und SPD werden soll, konstatiert schon auf der 4. von 177 Seiten, dass die Bürgerinnen und Bürger ein starkes Bedürfnis nach Bewahrung der kulturellen Identität haben. Dieser Vertrag lässt keinen Zweifel daran, wie er dieses Bedürfnis seiner Bürgerinnen und Bürger erfüllen möchte: Nämlich durch die Förderung »starker Kulturregionen«, für die er sich als »starker Kulturstaat« mitverantwortlich fühlt. Hierfür ist u. a. vorgesehen, die kulturelle Infrastruktur und das kulturelle Erbe zu erhalten, zu stärken und zu modernisieren. Es geht den Koalitionären darum, die gesamtstaatlich bedeutsamen Kultureinrichtungen zu identifizieren und maßgeblich zu unterstützen. Dies indessen nicht als Selbstzweck. Mit dem Ausbau der kulturellen Infrastrukturen erhofft sich die Koalition, durch das immaterielle und materielle kulturelle Erbe die integrierende und identitätsstiftende Kraft der Kultur für unsere Gesellschaft zu entfalten. Diese Entfaltung bedarf der kulturellen Infrastrukturen, vor allem aber auch der kulturellen Bildung, denn diese habe »eine überragende Bedeutung für die individuelle Persönlichkeitsentfaltung wie auch für das Selbstverständnis und die Teilhabe an unserer Gesellschaft«. Kulturelle Bildung sei nicht nur ein Schlüsselfaktor für die Integration, sondern erschließe schlechterdings den Zugang zum gesellschaftlichen Leben.
Auch wenn hier im Koalitionsvertrag der Name Klassik Stiftung Weimar nicht fällt, was man im Lichte des deutschen Kulturföderalismus als Courtoisie des Bundes gegenüber dem Freistaat Thüringen verstehen mag, kann doch kein Zweifel daran bestehen, dass die Autoren dieser hier zitierten Passagen eben auch und gerade an die Klassik Stiftung gedacht haben, als sie ihre Zeilen in Windeseile zu Papier brachten. Kein Mensch kann im Moment sagen, was die Formulierungen im Koalitionsvertrag für die Praxis der Kulturförderung in den kommenden vier Jahren praktisch bedeuten mögen. Mir geht es hier und im Zusammenhang mit der Würdigung für einen vor 200 Jahren geborenen Fürsten um die Frage, ob die Verfasser des Koalitionsvertrages eigentlich wissen, in wessen Tradition sie stehen? Denn das, was der Koalitionsvertrag die Stärkung der kulturellen Infrastruktur nennt, ist nichts anderes als die Beschreibung des Lebenswerks, das Großherzog Carl Alexander für Weimar vollbrachte. Und auch wir in der Klassik Stiftung, die wir uns so sehr darauf freuen, in diesem Jahr das neue bauhaus museum fertigzustellen und die grundhafte Sanierung und Ertüchtigung des Stadtschlosses zu Weimar zu beginnen, auch wir stehen in keiner anderen Tradition als in der dieses Großherzogs. Wissen wir das? Wissen das die Autoren der kulturpolitischen Teile des Koalitionsvertrags? Wollen wir Erben dieses Erben sein? Schmeichelt es uns nicht viel stärker, wenn wir uns in die Tradition Harry Graf Kesslers stellen, der hier um 1900 eine neue Kulturblüte, ein neues Zeitalter der Verdichtung einer lebendigen kulturellen Konstellation zu entfalten sich anschickte?
Die einzige Erwähnung des Großherzogs Carl Alexander, die man zu dessen Lebzeiten in Harry Graf Kesslers Tagebuch, das bekanntlich Tausende von Personen erwähnt, findet, diese einzige Erwähnung ist eine höchst indirekte. Keineswegs hat Graf Kessler den regierenden Großherzog bei Hofe oder andernorts kennengelernt, obwohl er seine Fäden ab 1897 immer intensiver nach Weimar ausspinnt. Stattdessen berichtet er unter dem 14. Oktober 1898 von einem der zahllosen Diners, an denen der 30jährige ununterbrochen, in diesem Fall als der mit Abstand Jüngste, teilnimmt. Diesmal ist Graf Kessler bei der Gräfin Schlippenbach zu Gast, bei der sich eine Reihe adliger Personen versammelt, die alle, sei es diplomatisch, sei es kulturpolitisch, in das Umfeld des Kaiserlichen Hofes Kaiser Wilhelms II. gehören. Einer der Herren, Oswald Freiherr von Richthofen, Direktor der Kolonialabteilung des Auswärtigen Amtes, erzählt eine »amüsante Geschichte« vom »Großherzog von Sachsen«, wie Kessler ihn nennt, und diese Geschichte geht so: Zitat: »bei der Aufführung des ›Willehalm‹ im vorigen Jahr sei er eingeschlafen. Und als er im Moment aufwachte, da der Vorhang über dem vom Genius des Vaterlandes geküssten Willehalm niederging, habe er nur gehaucht: ma pauvre sœur«, meine arme Schwester. Das finden die Ende 1898 versammelten Persönlichkeiten der Berliner Gesellschaft, gerade weil sie ihrerseits die Lebensmitte schon überschritten haben, sehr lustig. Graf Kessler, der jüngste in der Runde und ihr Chronist, wurde fast auf den Tag 50 Jahre nach diesem Großherzog geboren, über den man sich, im Saft des Lebens stehend, in Berlin amüsiert. Carl Alexander, obwohl noch immer regierend, erscheint diesen Tafelnden wie ein freundliches Gespenst aus einer längst untergegangenen Epoche.
Ein solches Gespenst mag man heute auch den Grafen Kessler, den seine Zeit übrigens nicht selten als Grandseigneur, gern auch als letzten Grandseigneur apostrophierte, nennen, von dessen Wirkung in Weimar wie von dem Großherzog nicht viel gegenwärtig geblieben ist, aber doch immerhin, anders als von diesem, eine ›Kunsthalle Harry Graf Kessler‹. Auch diese Infrastruktur, der Rest des ehemaligen Museums für Kunst und Kunstgewerbe, ist von Carl Alexander errichtet worden. Dort werden wir übrigens, gemeinsam mit dem Stadtmuseum und den Kunstfreunden, im Sommer seines Jubiläumsjahrs eine Ausstellung über den weitgehend vergessenen Landschaftsmaler Friedrich Albert Schmidt einrichten, den, nun: wer schon?, der Großherzog nach Weimar geholt hatte.
Aber das ist nun wirklich nur die Spitze des Eisberges. Die gesamte sogenannte Kulturinfrastruktur, die sich Klassik Stiftung Weimar nennt, ist als solche und in ihrer Gesamtheit im Grunde eine Erfindung des Großherzogs. Er sah sich früh als Erben und fand seine Bestimmung darin, dieses Erbe zu erhalten und seine Gegenwart, die Menschen, die aus Deutschland und aus der ganzen Welt hierher kamen – und sie kommen noch immer! – daran partizipieren zu lassen. Das nennt der Koalitionsvertrag »Kulturelle Vermittlung«. Was wäre Weimar, die Kulturstadt, ohne den Großherzog? Kein Goethe- und Schiller-Archiv, denn sein Kern, der Goethe-Nachlass, ist eine Stiftung seiner lebenslangen Freundschaft zu dem anderen Enkel seiner Epoche, zu Walther von Goethe, mit dem er schon als kleiner Junge spielte, wenn sein Erzieher, Frédéric Soret, was oft geschah, zu Goethe einbestellt worden war, um sich mit ihm über naturwissenschaftliche Fragen auszutauschen. Kein Goethe-Nationalmuseum, das er 1885 gründete. Kein erster Museumsbau in Thüringen, der heute an der Harry-Graf-Kessler-Straße liegt. Den zweiten Museumsbau in Weimar hatte ich schon erwähnt, das Museum für Kunst und Kunstgewerbe. Das dritte von ihm errichtete Museum ist das Wittumspalais. Er widmete das abgelebte Palais 1871 seiner bis heute gültigen Bestimmung, einen Ort der Vergegenwärtigung Weimars in der Epoche Anna Amalias zu schaffen.
Aber seine folgenreiche Tätigkeit ging weit über diese Ecksteine unserer heutigen Stiftung hinaus. Seine unmittelbar nach dem Antritt der Regentschaft vollzogene Gründung der Großherzoglichen Kunstschule ist der eigentliche Beginn einer Entwicklung Weimars zur Stadt der Künste, denn Goethes Preisaufgaben sind doch wohl kulturpolitisch eher als Flop zu bewerten. Als seine Kunstschule erblüht war, schrieb er:
»Meine Malerschule ist ein Erfolg geworden, weil ich genau das entgegengesetzte Prinzip« – gemeint ist das Prinzip der herkömmlichen Kunstakademien, die normativ einen klassischen Kanon vermittelten – »verfolgt habe: die Freiheit in der Lehre für die Meister und die Schüler.«
Aus der Kunstschule ging die Kunstgewerbeschule und aus beiden das Bauhaus hervor. Und was wäre Weimar heute ohne die Bauhaus-Universität? Und die Hochschule für Musik Franz Liszt ist, fast hätte ich das schlimme, immer zu streichende Wort ›natürlich‹ benutzt, ebenfalls seine Gründung. Die zerstreuten Quellen der ernestinischen Geschichte zog er, wo er konnte, zusammen, eine Initiative, die zum Hauptstaatsarchiv und kürzlich zum Sitz der Landesarchivleitung in Weimar führte. Das Archiv ist bis heute in zwei Gebäuden, die Carl Alexander errichten ließ, dem Archivgebäude am Beethovenplatz und dem Marstall untergebracht. Wollen Sie mehr hören? Soll ich von den für Weimar nun wirklich ikonischen Denkmälern sprechen, von den Denkmälern für Carl August, Goethe und Schiller? Alles entstammt seiner Ägide, alles lag in seiner Hand. Oder soll ich berichten von den Dornburger Schlössern und von Schloss Ettersburg?
Der ausgelöschte und in Weimar doch latent zugleich omnipräsente Fürst ist ein Phänomen, das uns angehen sollte. Denn die übliche Erklärung für dieses Phänomen ist nicht schlüssig. Sie will das Vergessen des Großherzogs den historischen Groß-Katastrophen des 20. Jahrhunderts zuschreiben, dem I. Weltkrieg und dem Ende der Monarchie, dem Nationalsozialismus und seiner Volksgemeinschaft, deren Aufmärschen sein Denkmal bereits 1938 weichen musste, und schließlich dem II. Weltkrieg, der von den guten alten Zeiten nichts übrig gelassen und Weimar zu einem sozialistisch-humanistischen Kulturerbe-Konzept geführt habe, das tatsächlich streng zwischen einem bürgerlich-humanistischen Vorspiel um 1800 und einer feudal-reaktionären, imperialistischen Epoche des verschärften Klassenkampfes im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts unterschied, der eben auch dieser Fürst als, wenn auch schwacher, Protagonist angehört habe. Mitgefangen, mitgehangen. Seiner sollte deshalb nicht länger gedacht werden.
Alles schön und gut, aber wie gesagt: Nicht schlüssig. Denn dieses, übrigens schon vor 1989 brüchig gewordene Narrativ west nun seit 30 Jahren endgültig auf dem ›Misthaufen der Geschichte‹, den ich nur deshalb hier erwähne, um wenigstens einmal an den anderen Karl zu erinnern, der im Jahr 1818 geboren wurde. Neues ist in der Stadt sichtbar und erlebbar geworden, es hat Weimar verändert. Wir haben höchst folgenreiche Revisionen, die wir für nötig hielten, vollzogen. Unser Klassik-Konzept und damit die Sicht auf Goethe haben sich gewandelt. Das sieht man im Goethe-Nationalmuseum und man wird es in den kommenden Jahren auch im Wohnhaus erleben können. Unser Bild von der frühen Moderne in Weimar hat sich geändert, Nietzsche, Kessler und van de Velde sind in die Stadt zurückgekehrt. Das Bauhaus gehört heute, anders als vor 50 Jahren, zu Weimar und seinem kulturellen Erbe. Und selbst Buchenwald ist Teil dieser Stadt, ihres Selbstbildes geworden, so sehr, dass in gewissen Kreisen das böse Wort von der Buchenwaldisierung unserer Stadt umgeht.
Einzig der Großherzog geht weiter als Gespenst der Geschichte durch seine Stadt, als hätte sie nichts mit ihm zu tun. Das Gespenstische an ihm in unserer Zeit ist nicht, dass er sich, wie vieles, was historisch geworden ist, nur noch latent manifestiert, sondern umgekehrt, dass er so manifest latent ist. Seine offensichtlich anwesende Abwesenheit erinnert an die Struktur einer neurotischen Störung. Etwas, das nicht zu unterdrücken ist, aber doch unterdrückt sein und bleiben soll, zwingt den Neurotiker, seltsame und jedem anderen sofort wahrnehmbare Symptome abweichenden Verhaltens auszubilden, die an die Stelle des zu Unterdrückenden treten. Was wollen wir partout nicht wahrhaben, so dass wir lieber eine kollektive Neurose ausbilden, als der Sache ins Auge zu blicken, nein, nicht der Sache, sondern ihm selbst, dem Großherzog: weil wir nämlich erkennen müssten, dass wir ihm ähneln. Wir gleichen ihm, aber wir wollen nicht sein wie er.
Denn er war, wie der schreckliche Ernst von Wildenbruch sagte, der hier aber, peinlich genug, den Carl Alexander mitten auf den Kopf trifft,
»Inmitten eines nervösen Geschlechts … ein ganz und gar historischer Mensch.« (S. 6)
Und eben dies macht uns nun erst recht nervös. Lassen Sie mich kurz von Hans Christian Andersen und Carl Alexander berichten. Im Juni 1844, dem Geburtsjahr Friedrich Nietzsches, lernen sie einander kennen, der kürzlich verehelichte Erbgroßherzog ist 26, der in Deutschland gerade berühmt werdende Märchendichter 39 Jahre alt. Der Verlauf der Begegnung darf ungewöhnlich genannt werden. Schloss Ettersburg verwandelt sich zu einem Märchenschloss. Man kommt sich näher, sehr nahe. Umarmungen fallen reichlich an, Küsse werden getauscht, der dänische Ehrengast an der Tafel des Prinzen bemerkt, dass ihm der junge Mann, der noch wie ein Jüngling, wenn auch mit Oberlippenbart, aussieht, unter dem Tisch liebevoll seine Hand drückt. Der Dichter ist gerührt. In sein Tagebuch schreibt er:
»Ich habe den jungen Herzog recht lieb, er ist der erste von allen Prinzen, der mich recht angesprochen hat, wo ich wünschte, daß er kein Prinz wäre, oder, daß auch ich einer wäre.« (26.6.44)
Ein stürmischer Briefwechsel beginnt gleich nach seiner Abreise.
»Was wir zusammen an jenen frohen Tagen erlebt, erzählen Sie so schön und lieblich, daß ich eines Ihrer reizenden Mährchen zu lesen glaubte oder die Erzählung eines Traums, den wir zusammen geträumt. An Ihnen, mein Bester, liegt es, daß wir ihn aufs Neue träumen.« (26. 9. 44)
Welchen Traum meint Carl Alexander?
Nicht, was Sie meinen, meine Damen und Herren. Es geht um den Traum einer Erneuerung Weimars aus dem Geist der frühen Goethezeit, in der eine kulturell ungemein produktive Symbiose aus fürstlicher Herrschaft und künstlerischer Kreativität gelungen war, an die der frisch in den Traum verliebte Enkel als Erbe des einen, Carl Augusts, wie des anderen, Goethes, nun anzuknüpfen hofft. Dem Dichter schreibt er von der
»Erinnerung an eine ewig denk- und ruhmwürdige Zeit, vor der ich mit Bewunderung und Sehnsucht stehe.«
Diese Zeit zu erneuern, das ist der Traum. Aber daraus wird nichts. Es gelingt ihm nicht, den ewig reisenden Andersen an seinen Hof zu binden. Und er weiß auch, woran es liegt:
»Ich bin nur eine kleine häßliche Ente und, was das Schlimmste ist, bleibe es und werde kein Schwan.« (16.3.46)
Wie seltsam, dass uns Carl Alexander mit diesem Bild auf Wagner und seinen Lohengrin hinweist. Auch Wagner konnte er nicht an Weimar binden, aber den Lohengrin brachte das Hoftheater dennoch am Goethe-Geburtstag 1850 hier zur Uraufführung. Während Ludwig II. Schloss Neuschwanstein, wie der Name schon sagt, als Verwirklichung seines Geschichts-Traums kurzerhand neu erbaute, fand Carl Alexander in der glanzvollen Erneuerung der Wartburg die Erfüllung seines Lebenstraums.
Andersen schrieb Carl Alexander stattdessen ein Märchen, ein seltsames Stück unter dem Titel Die Nachtmütze des Hagestolzes. Es ging nicht ein in den Kreis der berühmten Märchen, die jeder kennt, ohne den Autor deshalb kennen zu müssen, wie Das hässliche Entlein oder Die Schneekönigin. Es ist die Geschichte eines großen Unheils, die Geschichte vom frühen Glück des Knaben Anton aus Eisenach, das sich in ein lebenslanges Unglück verwandelt, aus dem nur der Tod im eisigen Frost und fern der Heimat den alten Anton erlösen kann. Es ist das todtraurige Märchen vom nichtgelebten Leben. Zurück bleibt die Nachtmütze des Hagestolz, in die dieser die vielen Tränen seines Kummers hineingeweint hat. Wer sie aufsetzt, träumt böse Träume. Am Ende gibt das Märchens dem Leser einen guten Rat:
»Jeder, der später diese Nachtmütze aufsetzte, bekam Gesichte und Träume, seine eigene Geschichte verwandelte sich in Antons Geschichte …: Wünsche dir niemals die Nachtmütze des Hagestolzes.«
Sei sein Erbe nicht!
In Gestalt des romantischen Kunstmärchens ist dies die Vorwegnahme jener Kritik, mit der Nietzsche 1874 seine Generalabrechnung mit dem historischen Bewusstsein eröffnete: ›Vom Nutzen und Nachteil der Geschichte für das Leben‹. Damit waren die Pole gesetzt: Entweder Geschichte oder Leben. Nietzsche, der die letzten drei Jahre seines Lebens umnachtet in Weimar verbrachte, wurde vom Großherzog nicht besucht. Kessler pilgerte auf den Berg des Hauses Silberblick, besuchte aber den Großherzog nicht. Die Verherrlichung des Lebens noch in der Umnachtung, der Vitalität, der Gegenwart, sie sind es, die auch uns bestimmen, auf gehörigen Abstand zum Erben Carl Alexander – und auch zu seinem Erbe? – zu achten. Nicht das 20. Jahrhundert hat ihn uns entrückt, sondern das späte 19., das sich aus den Fesseln der Geschichte befreien wollte, um das 20. zu gebären.
Wir wollen uns die Nachtmütze des Hagestolz nicht aufsetzen, und ich glaube, wir tun gut daran, es nicht zu wollen. Aber mit nicht wollen, ist noch nicht genug getan. Denn wir können doch nicht zurück in die Unschuld der bestialischen Vitalität. Wir bleiben Träger und Produzenten historischen Bewusstseins, wir entgehen ihm nicht. Wenn wir es verleugnen, machen wir uns bloß zu seinen angeblich unbewussten, in Wahrheit willigen Tätern und Opfern. Richtig ist hingegen, was Jacob Burckhardt, übrigens der Dritte im Bund der großen 1818er, konstatierte:
»Wir möchten die Welle kennen, auf welcher wir im Ozean treiben, allein wir sind diese Welle selbst.«
So ist es: Wir wissen, dass wir historisch Gewordene und, rasch genug, historisch werdende sind, und doch wissen wir nicht, wer wir sind. Aber die Geschichte lehrt uns, Ähnlichkeiten zu entdecken, ohne uns – wie der Romantiker Anton/Carl Alexander – gleich mit Haut und Haaren identifizieren zu müssen. In dieser Perspektive sollten wir wahrnehmen, dass vieles von dem, was etwa die Klassik Stiftung tut, mit dem, was Carl Alexander tat, ziemlich viel Ähnlichkeit hat – und wir sollten uns, aus lauter Angst, das Leben zu verfehlen, dessen nicht schämen, wie wir uns des Großherzogs nicht schämen sollten. Oder wollen wir etwa bezweifeln, dass die Eröffnung eines Bauhaus-Museums in Weimar einem sehr ähnlichen Impuls folgt, der auch den Großherzog bewogen hat, seine neuen Kulturinfrastrukturen zu errichten? Ist es nicht zumindest auch die von Carl Alexander erwähnte, mit Sehnsucht verbundene Bewunderung für eine große kulturelle Epoche, die wir davor bewahren wollen, zu einem ›Zwischenfall ohne Folgen‹ herabzusinken? Selbstverständlich wollen wir das, und das ist ganz und gar nicht natürlich, aber umso gewisser kultürlich. Infrastrukturen des kulturellen Erbes, also z.B. Kulturstiftungen, haben mit Geschichte, nicht mit dem Leben zu tun, und nur wenn sie dies akzeptieren, können sie von Vorteil für das Leben in seiner Gegenwart sein. So kompliziert ist das einfach. Wenn wir dies nicht akzeptieren können, dann geht die Geschichte als ein Gespenst durch unsere Stadt. Und Sie wissen jetzt auch, wie das Gespenst heißt. Aber seine verhängnisvolle Nachtmütze, die tragen dann allemal wir.
Liebe Gäste, ich habe so viel von diesem Großherzog nicht erzählt, weil ich von uns gesprochen habe, den Erben und ihren Träumereien. Am schmerzlichsten ist mir das Liszts wegen. Auch ihn hat Carl Alexander nach Weimar holen wollen, auch bei ihm gelang das nur zum Teil, was man nicht zuletzt daran sieht, dass sie einen umfangreichen Briefwechsel hinterlassen haben. Dies großartige Dokument einer Freundschaft zwischen zwei Männern, die ungleicher nicht hätten sein können, wird in diesem Saal am Vorabend des großen Geburtstages vorgestellt. Erben des Fürsten und Erben des Komponisten werden sich in die Vorstellung der Briefe teilen. Ein beziehungsreiches Arrangement, lebendige Geschichte. Das geht so nur in Weimar. Und wer hat es bewerkstelligt? Franca Günther und der Archivdirektor Bernhard Post, zwei Historiker.
Übrigens, ist es nicht seltsam, dass es just im Jahr des 200. Geburtstages von Carl Alexander geschieht, dass ich mein angestammtes Büro im Stadtschloss, Maria Pawlownas Salon, verlassen muss? Und wo bringt man mich unter? Bei Carl Alexander, einen Stock höher, direkt darüber. Wenn ich in all den Jahren am späten Abend in meinem Büro saß, hörte ich ihn immer über mir durch sein Arbeitszimmer schreiten; das Knarren der Dielen war vernehmbar. Warum geht er denn nicht zu Bett? fragte ich mich dann. Kann er nicht ruhen? Bis er nach kurzer Frist bei mir eintrat; ich hörte ihn durch das Vorzimmer schreiten, meine Tür öffnete sich: Es war der Wachmann. Mit der Taschenlampe in der Hand stand er in der Tür:
»Noch nicht zu Bett, Herr Seemann?«