Faksimile, Gedichtbrief von Goethe an von Stein »Der vierte Theil meiner Schrifften Berlin. 1779 bey Himburg.«, © Klassik Stiftung Weimar

Faksimile, Reinschrift des Gedichts »An den Mond« von Goethe, © Klassik Stiftung Weimar

Faksimile, Noten zum Text der ersten Strophe des Gedichts »An den Mond« von Goethe, © Klassik Stiftung Weimar

Faksimile, Liebesgedicht von Goethe an Charlotte von Stein »Warum gabst du uns die Tiefen Blicke ... «, 14. April 1776, © Klassik Stiftung Weimar

Faksimile, Liebesgedicht von Goethe an Charlotte von Stein »Warum gabst du uns die Tiefen Blicke ... «, 14. April 1776, © Klassik Stiftung Weimar

Kurscheidt, G., Richter E. (Hrsg.): J.W. Goethe, Briefe, Historisch-kritische Ausgabe, Band 3 II, Berlin 2014

Kurscheidt, G., Richter E. (Hrsg.): J.W. Goethe, Briefe, Historisch-kritische Ausgabe, Band 3 I, Berlin 2014

Goethes Gedichtbriefe für Charlotte von Stein

Unter den Briefen Goethes an Charlotte von Stein aus den Jahren 1776 bis 1779 sind mehr als ein Dutzend Gedichte überliefert, die als Beilage zu einem Brief oder anstelle eines Briefes verschickt wurden. Diese Gedichte erschienen zu Goethes Lebzeiten, wenn überhaupt, nur in abgewandelter Fassung. In der »Weimarer Ausgabe« sind sie in der ersten Abteilung unter den »Gedichten« zu finden, wodurch ihr entstehungsgeschichtlicher Kontext verloren geht. Im dritten Band der historisch-kritischen Briefausgabe erscheinen sie nun – neu ediert nach den Handschriften – erstmals vollständig und im Zusammenhang der Goetheschen Korrespondenz der frühen Weimarer Zeit.

Faksimile, Liebesgedicht von Goethe an Charlotte von Stein »Warum gabst du uns die Tiefen Blicke ... «, 14. April 1776, © Klassik Stiftung Weimar

Faksimile, Liebesgedicht von Goethe an Charlotte von Stein »Warum gabst du uns die Tiefen Blicke … «, 14. April 1776, © Klassik Stiftung Weimar

»Warum gabst du uns die Tiefen Blicke …«

Einige der Gedichte sind eng mit der Person der Adressatin verbunden, darunter »Warum gabst du uns die Tiefen Blicke … «, eines der schönsten Liebesgedichte in deutscher Sprache. Es trägt die Datierung 14. April 1776, stammt also aus der Anfangszeit von Goethes Beziehung zu Charlotte von Stein, und war zunächst Teil seiner privaten Korrespondenz. Auch wenn sich der Text ganz ohne biographischen Bezug als literarisches Kunstwerk verstehen lässt, so erfüllte er doch zugleich die Funktion eines Briefes, dessen Aussage durch die gebundene lyrische Sprache besondere Intensität und Eindringlichkeit verliehen wurde. Auf den überaus persönlichen Charakter des Gedichtbriefes verweist schon die Tatsache, dass Goethe den Text im Unterschied zu anderen an Charlotte von Stein übersandten Gedichten zu seinen Lebzeiten nicht – auch nicht in einer abgewandelten Fassung – veröffentlichte. Auch in die von Goethe selbst verantworteten oder begonnenen Werkausgaben wurde das Gedicht nicht aufgenommen, es erschien zuerst 1848 in der frühesten Ausgabe der Briefe an Charlotte von Stein. Auffallend sind die sprachlich-inhaltlichen Parallelen zu den kurz davor oder danach geschriebenen Briefen, die belegen, wie fließend die Übergänge zwischen Dichtung und Brief sind. Am deutlichsten sind die Bezüge zu einem Brief an Christoph Martin Wieland, ebenfalls von Mitte April 1776, in dem es heißt: »Ich kann mir die Bedeutsamkeit – die Macht die diese Frau über mich hat, anders nicht erklären, als durch die Seelenwanderung. – Ja, wir waren einst Mann und Weib! – Nun wissen wir von uns, verhüllt, in Geisterduft – Ich habe keinen Namen für uns: – die Vergangenheit – die Zukunft – das All!«

 »An den Mond«

Der »Mond« ist nicht nur in der an Charlotte von Stein gerichteten Lyrik Goethes, sondern auch in seinen Briefen an sie eine der zentralen Metaphern. Unter den Briefen ist auch die von Goethe stammende Reinschrift des Gedichts »An den Mond« mit den Noten zum Text der ersten Strophe überliefert.

Links: Faksimile, Noten zum Text der ersten Strophe des Gedichts »An den Mond« von Goethe, © Klassik Stiftung Weimar, Rechts: Faksimile, Reinschrift des Gedichts »An den Mond« von Goethe, © Klassik Stiftung Weimar

Links: Faksimile, Noten zum Text der ersten Strophe des Gedichts »An den Mond« von Goethe, © Klassik Stiftung Weimar, Rechts: Faksimile, Reinschrift des Gedichts »An den Mond« von Goethe, © Klassik Stiftung Weimar

Die Handschrift gibt das Gedicht in der frühesten bekannten Fassung wieder, die zu Lebzeiten Goethes nicht veröffentlicht worden ist. Zwar erschien 1789 in Band 8 der Göschen-Ausgabe von »Goethe’s Schriften« ein Gedicht unter demselben Titel, doch weicht es im Wortlaut stark ab und umfasst drei Strophen mehr. Die frühe Fassung dagegen wurde zuerst 1848 unter den Briefen an Charlotte von Stein gedruckt, und zwar mit einer Anmerkung Friedrich von Steins, des jüngsten Sohnes der Adressatin, der auf den Freitod Christiane von Laßbergs als verbürgten Anlass für die Entstehung des Gedichtes verweist. – Die damals knapp 17-Jährige war am 16. Januar 1778 in der Ilm ertrunken und am Tag danach nicht weit vom Gartenhaus aufgefunden worden. Goethe war von diesem Ereignis tief erschüttert, zumal in der Folgezeit Gerüchte aufkamen, die junge Frau habe den »Werther« bei sich gehabt, als sie in die Ilm ging. – Lange Zeit wurde das Gedicht aufgrund dieses angeblichen biographischen Bezugs datiert, der zudem auch das Verständnis des Textes stark beeinflusste. Einen Hinweis auf die tatsächliche Entstehung liefert stattdessen die Melodie. Sie stammt von Goethes Frankfurter Jugendfreund Philipp Christoph Kayser und war ursprünglich für ein Gedicht von Heinrich Leopold Wagner gleichen Titels komponiert worden, das Goethe wahrscheinlich schon seit Ende August 1776, spätestens aber seit Anfang 1777 kannte. Die auffallenden Übereinstimmungen nicht nur im Titel, sondern auch in Strophenform und -anzahl legen nahe, dass Wagners »Mond-Lied« in Verbindung mit Kaysers Melodie Goethe zu seinem eigenen Gedicht anregte.

»Langverdorrte halbverweste Blätter vorger Jahre …«

Von gänzlicher anderer Art und ohne direkten persönlichen Bezug zur Adressatin ist dagegen das folgende Gedicht:

Faksimile, Gedichtbrief von Goethe an von Stein »Der vierte Theil meiner Schrifften Berlin. 1779 bey Himburg.«, © Klassik Stiftung Weimar

Faksimile, Gedichtbrief von Goethe an von Stein »Der vierte Theil meiner Schrifften Berlin. 1779 bey Himburg.«, © Klassik Stiftung Weimar

Der vierte Theil meiner Schrifften
Berlin. 1779 bey Himburg.

Langverdorrte halbverweste Blätter vorger Jahre,
Ausgekämmte, auch geweiht und abgeschnittne Haare,
Alte Wämser ausgetrettne Schuh und schwarzes Linnen,
Was sie nicht ums leidge Geld beginnen!
Haben sie für baar und gut
Neuerdings dem Publikum gegeben.
Was man andern nach dem Todte thut,
Thut man mir bey meinem Leben.
Doch ich schreibe nicht um Porzellan noch Brod
Für die Himburgs bin ich todt.

Anfang 1779 brachte der Berliner Verleger und Nachdrucker Christian Friedrich Himburg eine 3. Auflage der dreibändigen Ausgabe von »J. W. Goethens Schriften« heraus, erweitert um einen Supplementband. Wie sämtliche früheren Auflagen war auch diese ohne Zustimmung des Autors und der rechtmäßigen Verleger erschienen. Das Gedicht, das unter den Briefen aus dem Jahr 1779 überliefert ist, könnte eine ironische Widmung für das Charlotte von Stein zugedachte Exemplar des Supplementbandes gewesen sein, das Goethe ihr am 14. Mai 1779 überschickt hatte. Viele Jahrzehnte später nahm der Dichter die Verse, mit denen er sich »im Stillen« an dem »unberufenen Verleger« gerächt habe, ins 16. Buch von »Dichtung und Wahrheit« auf, freilich wiederum nur in abgewandelter Fassung.

Im Rahmen der historisch-kritischen Gesamtausgabe der Goethe-Briefe, seit 2008 im Auftrag der Klassik Stiftung und des Goethe-und Schiller-Archivs herausgegeben, erscheinen auch Goethes Briefe an Charlotte von Stein in neuer Textgestalt, revidierter Chronologie und erstmals umfassend wissenschaftlich kommentiert. Nach den Bänden 6 und 7 mit den Briefen von 1785 bis zum Ende der italienischen Reise im Juni 1788 folgen nun im dritten Band die Briefe der ersten vier Weimarer Jahre von 1775/76 bis 1779.