Goethe und Adele Schopenhauer
Ein bekanntes Ölgemälde Caroline Barduas porträtiert Johanna und Adele Schopenhauer im Herbst 1806. Es zeigt ein kleines verträumtes Mädchen, angelehnt an seine Mutter, im zartrosa Kleidchen. Kaum vorzustellen, dass Goethe dieses Mädchen erstmals in seinem Tagebuch erwähnt, als sie im Salon der Mutter versucht, dem Kunsthistoriker Johann Heinrich Meyer den Rock anzuzünden.
Adele Schopenhauer wird 1797 in Hamburg geboren und stirbt 1849 in Bonn, aber sie ist vor allem mit Weimar und im Besonderen mit Johann Wolfgang von Goethe verbunden. Im Herbst 1806 kommt sie mit ihrer verwitweten und vermögenden Mutter in die Stadt. Johanna Schopenhauer gelingt es hier, in den Kriegswirren der Schlacht von Jena und Auerstedt, ein neues geselliges Zentrum zu etablieren und fortan „die ersten Köpfe in Weimar und … Deutschland“ um ihren ,Theetisch‘ zu versammeln. Adeles ästhetisch-intellektuelle Bildung vollzieht sich gewissermaßen im Salon der Mutter, der zugleich von klassizistischen und romantischen Idealen geprägt ist. Sie lernt Italienisch, Französisch, Englisch, musiziert, deklamiert und malt.
Goethe ist lange Zeit häufiger Gast in der Windischengasse 13, wo Adele und ihre Mutter wohnen, und wird schnell zur Vaterfigur für die damals Neunjährige. Wie herzlich er sich dem Mädchen zuwendet, als sie ihr erstes Weihnachtsfest in Weimar verbringt, beschreibt Johanna ihrem Sohn Arthur Schopenhauer in einem Brief:
„Den ersten Feyertag war meine Gesellschaft, den Tag vorher hatte Adele ihren Weyhnachten bekommen, und zwar nach der LandesSitte, einen großen TannenBaum mit vergoldeten Nüßen, Äpfeln und Wachslichtern … dabey Puppen, eine kleine Galanteriebude, und mancherley … Göthe ist ein unbeschreibliches Wesen, das Höchste wie das Kleinste ergreift er, … mit den Kindern [war er] in Sophiens Zimmer gegangen, hatte sich dort hingesezt und sich Adelens Herrlichkeiten zeigen lassen, alles Stück vor Stück besehen, die Puppen tanzen lassen, und kam nun mit den frohen Kindern und einem so lieben milden Gesichte zurück“.
In Weimar findet Adele Schopenhauer auch eine ,Schwester’: die Herzensfreundin Ottilie von Pogwisch, mit der sie gemeinsam liest, schreibt und liebt. Durch die Hochzeit Ottilies mit Goethes Sohn August im Juni 1817 erhält Adele als junge Frau nun fast täglich Zugang zum Haus am Frauenplan. Hier diskutiert sie mit dem Dichter über Literatur, Theater und Kunst. Goethe schätzt vor allem ihre Papierschnitte, die er sammelt und mit poetischen Kompositionen an Freunde verschenkt. An der Konzeption eines Scherenschnitts beteiligt er sich im Juli 1820 sogar selbst: der figurativen Interpretation seiner Ballade ,Hochzeitlied‘.
Dem Schattenriss liegt die Sage vom Grafen von Eilenburg zugrunde, der nach beendetem Krieg in sein Schloss zurückkehrt und dort dank einer Hochzeitsfeier von Zwergen sein Lebensglück wiederfindet. Der filigrane Scherenschnitt stellt eine Welt dar, in der Menschliches und Phantastisches harmonisieren und in der keine gesellschaftlichen Distanzen mehr existieren.
Aufgrund finanzieller, familiärer und gesellschaftlicher Probleme entschließt sich Adele Schopenhauer nach zwei Jahrzehnten, Weimar zu verlassen, um ab 1829 sommers in Unkel und winters in Bonn zu wohnen. Die enge Beziehung zum „gütigen Vater“ Goethe lebt in Briefen fort, die von emotionaler Nähe zeugen und vielerlei Themen berühren. Adele schreibt über ihre Ausbildung im Zeichnen, teilt Lektüreeindrücke, gibt Nachrichten vom Bonner Universitätsleben und aus naturwissenschaftlichen Kreisen. Überdies vermittelt sie Mineralien, Altertümer, Bücher und Radierungen, die Eingang in seine Sammlungen finden. Im Gegenzug darf sie um Autographen und Medaillen bitten. Goethe antwortet stets interessiert und ermunternd, wünscht weitere Briefe und hofft: „Möge es unter uns noch lange beim Alten bleiben“.
In Unkel lässt Adele ein Bild ihres Häuschens anfertigen, damit sich der „liebe beste Vater” in Weimar den neuen Wohnort vor Augen führen kann. Bis an sein Lebensende bleiben sie miteinander vertraut. Nach seinem Tod gesteht sie der Schwiegertochter und Herzensfreundin Ottilie von Goethe:
„Ich kann nicht darüber schreiben, auch nicht reden; seine Gestalt verläßt mich beinahe gar nicht, ich sehe ihn immerfort gehen, kommen, sitzen. Ich habe diese Empfindung nie gehabt.“
Unter Goethes Anleitung hatte Adele Schopenhauer bereits als Kind Kopien von Gemälden und Kupferstichen der herzoglichen Sammlung in Weimar angefertigt. In den Genuss ihrer zauberhaften Federzeichnungen, Lithographien und Miniaturaquarelle der 1830er und 1840er Jahre kommt er nicht mehr. Er wird auch nicht erleben, wie Adele Schopenhauer aus dem Schatten von Anonymität und Pseudonymen heraustritt, um unter ihrem eigenen Namen als Schriftstellerin zu veröffentlichen. Und doch enthalten ihre späten künstlerischen und dichterischen Werke oft Reminiszenzen an Weimar und Goethe, wie etwa das Miniaturaquarell von Goethes Gartenhaus oder der autobiographisch gefärbte Roman ,Anna‘ (1845). ,Anna‘ beginnt mit der Plünderung Weimars 1806 und endet mit dem Hambacher Fest 1832, das symbolisch mit dem Tod Goethes zusammenfällt.
Symbolisch gedeutet für die Beziehung zwischen Goethe und Adele Schopenhauer wurde auch der 28. August 1849, der 100. Geburtstag des „theuren Vaters“, an dem Adele Schopenhauer auf dem Alten Bonner Friedhof beigesetzt wurde. Ottilie von Goethe kann gegenüber der gemeinsamen Freundin Sibylle Mertens-Schaaffhausen nur bemerken:
„Während man in Deutschland jubelt, schreibe ich dir mit einem Herzen zerissen von Weh.“
Sibylle nimmt das schicksalshafte Datum zum Anlass, um eine besondere Gedenkmedaille an Freundinnen und Freunde zu verschenken. Sie ließ die im Auftrag der Stadt Frankfurt am Main angefertigte Münze „Zu Göthe‘s hundertjähriger Geburtsfeier am 28 August 1849“ mit der zusätzlichen Gravur „wurde in Bonn begraben Adele Schopenhauer“ versehen und verteilen.
Francesca Fabbri und Claudia Häfner kuratieren die Ausstellung „Weil ich so individuell bin“, die erstmals das künstlerische und dichterische Werk Adele Schopenhauers zeigt und bis 15. Dezember 2019 im Goethe- und Schiller-Archiv Weimar zu sehen ist.