Einblick in Goethes poetische Werkstatt
„Auch bei Goethe sind die Gedichte nicht vom Himmel gefallen“, sagt Literaturwissenschaftlerin Anke Bosse. Dass auch ein Genie zunächst Ideen notiert, Zeilen entwirft, verwirft und ändert, bis schließlich alles passt, zeigt die Ausstellung „,Poetische Perlen‘ aus dem ,ungeheuren Stoff‘ des Orients“ im Goethe- und Schiller-Archiv. Anlass ist Goethes „West-östlicher Divan“, der vor 200 Jahren erschienen ist.
„Mich interessiert der Weg zum Gedicht mehr als das fertige Werk“, sagt Anke Bosse, Kuratorin der Ausstellung. Anhand von 16 Gedicht-Beispielen zeigt sie, wie sich Goethe für den persischen Dichter Hafis begeistert, mit ihm in poetischen Wettstreit tritt und intensive Orient-Studien betreibt.
1814 bringt Goethes Verleger, Johann Friedrich Cotta, seinem Autor die erste deutsche Gesamtübersetzung des „Diwan“ von Hafis mit. Zu dieser Zeit ist der Dichter fast 65 Jahre alt, weilt zur Badekur in Berka und hat in den letzten Monaten kaum Gedichte verfasst. Auch wenn die Übersetzung des österreichischen Orientalisten Joseph von Hammer-Purgstall sich aus heutiger Sicht etwas zäh liest, ist Goethe sofort begeistert. „Er ist so inspiriert, dass er in wenigen Monaten über 50 Gedichte schreibt“, erzählt Anke Bosse. Goethe beginnt Orient-Studien und versucht sich spielerisch in arabischen Schreibübungen. „Die Schrift eröffnete ihm die Möglichkeit, die orientalische Kultur sinnlich und unmittelbar zu erleben“, sagt Bosse.
Im Mai 1815 hat Goethe bereits über 100 Gedichte verfasst – nie hat er in so kurzer Zeit eine derart umfangreiche Gedichtsammlung erschaffen. Die Inspiration durch ‚orientalische‘ Literaturen und Kulturen ist fulminant. „Das ist das Besondere an Goethes Gedichten: Er schafft auf kleinem Raum eine ganz konzentrierte Komplexität, die auch emotional trifft“, sagt Anke Bosse. Dabei verbindet er westliche und östliche Einflüsse, mischt Bibelverweise mit Elementen des Korans und spielt souverän mit verschiedenen poetischen Formen.
1819 erscheint der „West-östlicher Divan“, Goethes kulturübergreifender poetischer Dialog. Auch wenn seine Zeitgenossen mit dem hybriden Charakter des Werks weniger anfangen konnten, heute ist der „Divan“ Sinnbild für kulturellen Austausch.
Für Anke Bosse, die sich seit ihrer Doktorarbeit intensiv mit Goethes „Divan“ befasst, sind seine Gedichte eine vertraute Welt geworden. „Wenn man sich lange mit etwas beschäftigt, dann meint man, alles zu kennen. Ich entdecke aber immer wieder etwas Neues, neue Bedeutungsebenen. Das zeigt die Meisterschaft des Autors.“
Die von Anke Bosse kuratierte Ausstellung „,Poetische Perlen‘ aus dem ,ungeheuren Stoff‘ des Orients – 200 Jahre Goethes West-östlicher Divan“ ist bis zum 21. Juli 2019 im Mittelsaal des Goethe- und Schiller-Archivs zu sehen.