Alfred Brendel und Péter Esterházy sprechen in Weimar über sinnvollen Unsinn und das Groteske im Ernst © Peter-Andreas Hassiepen

Die ernsten Scherze des Sir Alfred

Natürlich war ich neugierig, als ich an seiner Haustür im noblen Londoner Stadtteil Hampstead Sturm klingelte (»Bitte laut klingeln«, stand dort auf einem Zettel). Ich hatte Fragen vorbereitet und ihm einige davon auf sein Verlangen hin vorab zugeschickt. Um die selbsterklärte Humorfähigkeit des Maestros auszutesten, hatte ich darunter Fragen geschmuggelt wie:

»Wohin führen Tonleitern?« und »Lohnt sich der Quintenzirkel?«

Zu meiner Verblüffung hatte Alfred Brendel tatsächlich Antworten auf diese nicht ganz unernst gemeinten Fragen. Er hatte sich sogar vorbereitet und seitenlang Notizen gemacht – was ich noch nie bei einem Interviewpartner erlebt hatte. Er zitierte Jean Paul, diesen wunderbar ernsten Possenreisser der deutschen Romantik. Der hatte einst prophezeit, dass mit dem Fortschritt der Tonkunst auch der Ekel an ewig wiederkommenden Wohllauten so reich gedeihen werde, dass man am Ende schließlich zu Misstönen greifen würde. Für Jean Paul führten Tonleitern geradewegs zur »Mißtonleiter«, bei der das 20. Jahrhundert ja tatsächlich mit der atonalen Musik angekommen ist.

Die Wissenschaft, die bekanntlich vor gar nichts zurückschreckt, hat einmal die zahlreichen Etiketten analysiert, die ihm in der Presse angehängt werden: Vom »sanftmütigen Zyniker«und »letzten bürgerlichen Universalgelehrten am Flügel« über den »Tüftler unter den Tastentigern« bis hin zum »Klavier-Matador« reichen die Beinamen, mit denen die Kritiker dem Phänomen Alfred Brendel beizukommen versuchen.

Das ist eine Aufzählung, mit der man gleich eine ganze Generation von Pianisten abdecken könnte. Sie zeigt, wie vielfältig und widersprüchlich der Mensch im Künstler ist. Der Fantasie sind da keine Grenzen gesetzt. Man könnte ihn auch einen Oktaven-Ritter nennen, schließlich hat die englische Königin »Sir Alfred« längst geadelt – auch wenn er den Titel nicht trägt, da er zwar Wahlbürger Englands, aber kein britischer Staatsbürger ist. »Ich habe es geschafft, ohne Titel durch mein Leben zu kommen«, frohlockt Brendel im Gespräch. Eine umso beachtlichere Leistung, da er Österreicher ist.

Am besten aber wird man Alfred Brendel wohl gerecht, wenn man ihn als den seriösesten aller Humoristen versteht:

als einen Clown, der die exaktesten und zartesten Pointen zu setzen weiß oder als Pedanten, der Musik und Sprache konzentriert nach Falltüren absucht, um dann lustvoll durch sie krachen zu können. Schließlich zeichnet sich ein echter Humorist dadurch aus, dass er Scherze ernst zu nehmen weiß.

Dabei hat sein Humor auch eine durchaus karnevalistisch-derbe Seite. In seinem Klavierzimmer hängen die Liszt-Büste und eine österreichische Teufelsmaske wie Dioskuren nebeneinander, und beim Spielen auf dem Flügel blickt Alfred Brendel auf eine furchteinflössende Ahnenfigur aus Papua Neu-Guinea. Bei meinem Besuch in London zeigte er mir auch ein abgegriffenes Notizbuch. Darin eingeklebt waren Blödel-Bilder, die ihn und den Sänger Hermann Prey beim Grimassenschneiden in einem Wiener Fotoautomaten zeigten, daneben sinnige Zitate aus Schubert-Liedern. Purer Dada, die Aftershow-Party zweier junger Musiker, die sich abseits der Bühne nicht in ein Klassik-Korsett pressen ließen. Wenn Alfred Brendel in den fünfziger Jahren zu Konzerten in den Wiener Musikverein ging, dann – zur Konsternierung des Publikums – in Begleitung seiner Schildkröte, die er an einem Faden spazieren führte. Schon immer steckte der Schalk im Frack.

In seinen Gedichten zerstört er mit geradezu kindlicher Freude die Fassaden von Kirche, Politik und Gesellschaft, um aus den Bruchstücken in heiterer Melancholie ein Mosaik menschlicher Fehlbarkeit zu schaffen.

Er ist lieber mit Schutzteufeln im Bund als mit -engeln.

Doch als ich ihn fragte, ob er eine Todsünde ausgelassen habe, antwortete er, darüber führe er gar nicht Buch. Tut er natürlich doch, nämlich in seinen Gedichten.

Eitelkeit und Narzissmus – wohl die schlimmsten Übel der modernen Ich-Gesellschaft – nimmt er in dem Gedicht »Selbstheirat« wunderbar aufs Korn. Es beginnt mit einer eindrücklichen Szene: »Das Bedürfnis / mich selbst zu heiraten / ergriff von mir Besitz / als Otto und seine Frau / während des Symphoniekonzerts / schreiend aufeinander losgingen«. So tritt das lyrische Ich allein, »ein zweifaches Ja auf den Lippen«, vor den Altar und schwört sich ewige Treue. Natürlich geht auch das nicht gut. Am Ende erwartet er Besuch, denn es wird höchste Zeit, »sich heimlich zu betrügen« mit einem anderen Menschen.

Selbstbetrug als Befreiung vom Ich – im Gewand des Nonsens versteckt der Humorist Alfred Brendel den Tiefsinn. Seine Gedichte sind, in den Worten eines alten Weimaraners, »sehr ernste Scherze«.

Malte Herwig

Der Journalist, Schriftsteller und Literaturkritiker Malte Herwig schreibt für deutsche und internationale Medien, darunter die Frankfurter Allgemeine Zeitung, Süddeutsche Zeitung, Die Zeit, Welt, Deutschlandradio Kultur, Literaturen, Cicero, Weltwoche, Observer und New York Times. Als Kulturredakteur des Spiegel machte er unter anderem mit einer Reportage zu Schillers Schädel auf sich aufmerksam. Herwig traf Alfred Brendel 2014 in London.

Mehr zu Alfred Brendel von Malte Herwig im Magazin der Süddeutschen Zeitung.

Alfred Brendel und Péter Esterházy sprechen am 29. Oktober im Bücherkubus der Herzogin Anna Amalia Bibliothek über sinnvollen Unsinn und das Groteske im Ernst.