Herzogin Anna Amalia Bibliothek
30.000 Datensätze und neun Wochen Zeit
Die Herzogin Anna Amalia Bibliothek (HAAB) nimmt mit ihrer Stammbuchsammlung am diesjährigen »Kultur-Hackathon« ›Coding da Vinci Ost‹ teil. Die Idee: Kultureinrichtungen stellen ihre Bestände bzw. Metadaten zu diesen zur Verfügung, Hacker-Teams entwickeln daraus ganz unterschiedliche Software-Anwendungen.
Die Stammbuchsammlung der Herzogin Anna Amalia Bibliothek ist mit zirka 1.600 Exemplaren aus der Zeit von 1550 bis 1960 die weltweit größte. »Stammbuch«, »Freundschaftsbuch« oder auch »Album Amicorum« sind die gebräuchlichsten Begriffe für eine Textgattung, die von Wittenberg Mitte des 16. Jahrhunderts ausging und bis in die 1950er Jahre hauptsächlich in Deutschland sehr verbreitet war. Anfangs waren Stammbücher vor allem bei Studenten beliebt, später fanden sie in fast allen Gesellschaftsschichten großen Anklang. In diesen immer auch unterwegs mitgeführten Büchern trugen sich Freunde und Bekannte des Halters mit Widmungen, Wappen, Bildern, kleinen Texten und Gedichten oder auch mit illustrierten Reiseskizzen ein. So bildet jedes Stammbuch das gesellschaftliche Umfeld des Stammbuchhalters ab.
›Coding da Vinci Ost‹ kann nun auf ein Potential von 30.000 Datensätzen einzelner Stammbucheintragungen mit dem jeweiligen Namen des Eintragenden sowie Sprache, Ort und Datum einer Eintragung zugreifen. Diese stammen aus 400 Stammbüchern bis zum Jahr 1750, die in einem laufenden, von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Projekt von Frau Dr. Eva Raffel (Weimar/Tübingen) erschlossen wurden.
Als Beispiel für ein Stammbuch soll hier dasjenige von Conrad Daniel Frick dienen (Abbildung 1). 1666 oder 1667 als ältester Sohn des Münsterpredigers Johannes Frick (dem Älteren) in Ulm geboren, studierte er von 1688 bis 1694 in Leipzig Theologie und wirkte unter anderem in Ulm als Professor der Rhetorik und in Pfuhl, heute ein Stadtteil von Neu-Ulm, als Pfarrer, wo er am 1. Oktober 1699 starb.
In seinem Stammbuch sind knapp 200 Eintragungen enthalten, deren Verfasser identifiziert werden konnten. Einer von ihnen war der aus Memmingen stammende und zwischen 1685 und 1688 in Wittenberg und Jena wirkende Jurist Euthalius Sigismund Schorer, der sich am 14. April 1688 in Leipzig im Stammbuch Fricks verewigt hat (Abbildung 2). Eine Woche zuvor ist dieselbe Person über Einträge in den Stammbüchern von Johann Baier senior und Ulrich Nübling II. nachweisbar, die er offenbar in Wittenberg getätigt hatte. Im genannten Stammbuch Baiers wiederum findet sich zum 25. Januar 1689 ein Eintrag von Conrad Daniel Frick in Leipzig. Zumindest Schorer, Frick und Baier scheinen sich also gegenseitig gekannt zu haben oder sind einander zumindest persönlich begegnet.
Dieses Beispiel zeigt gut, wie durch die tiefe Erschließung der Stammbücher Personen identifiziert, ihre Aufenthaltsorte und Wege zu bestimmten Zeiten nachvollzogen und ihre Netzwerke untereinander sichtbar gemacht werden können. Diese Informationen können dann im Rahmen personengeschichtlicher Forschungen nutzbar gemacht und mit weiteren Quellen kombiniert werden.
Nachdem das Datenset am 14. April von Andreas Schlüter (HAAB) in Leipzig beim »Kick-off« zu ›Coding da Vinci Ost‹ vorgestellt wurde, ist nun ein Team von Entwicklerinnen und Entwicklern dabei, eine Anwendung für die Visualisierung dieser Netzwerke auf Basis der Stammbucheinträge zu erstellen. Das Ergebnis soll, gemeinsam mit den anderen Projekten des diesjährigen Events, am 16. Juni 2018 in der Leipziger Universitätsbibliothek präsentiert werden, bevor eine Jury direkt im Anschluss über die Prämierung besonders herausragender Projekte entscheiden wird.
Die Breite der aus vergangenen Veranstaltungen hervorgegangenen Entwicklungen ist enorm: interaktive Apps wie die »Berliner mauAR« und die Web-App »Ethno-Band«, animierte Videos zu den sieben Tugenden und Todsünden auf der Basis von allegorischen Kupferstichen, das Projekt »Visualisierung jüdischen Lebens«, der »zzZwitscherwecker« mit Klängen von verschiedenen Singvögeln, die es zum Abschalten des Weckers jeweils zu erraten gilt, oder der »Cyberbeetle«.
Update: Inzwischen haben uns die Universitätsbibliothek Tübingen und die Uppsala universitetsbibliotek zahlreiche weitere Datensätze zu Stammbucheinträgen aus ihren Beständen zur Verfügung gestellt – damit besteht das Set nun aus ca. 35.000 Datensätzen. Unser Projektteam würde sich übrigens über weitere Unterstützung durch Webdesigner und Visualisierer freuen: https://hackdash.org/projects/5ad23a3335377d7f73a9a159
Weitere Datensätze zu Stammbucheinträgen aus Bibliotheken, Archiven und ähnlichen Institutionen sind ebenfalls willkommen. Kontakt: Andreas Schlüter, andreas.schlueter@klassik-stiftung.de.