»Bücher erhalten«
Eine Ausstellung in Hildesheim zeigt, wie Studierende mengentaugliche Einbandrestaurierungsmethoden erfolgreich bei beschädigten Lederbänden angewendet haben. Vorbild war das Brandfolgenmanagement der HAAB. Ein Interview.
Die Wissenschaftliche Bibliothek des Stadtarchivs Hildesheim umfasst knapp 80.000 Bände, die teilweise aus dem 15. Jahrhundert stammen. In welchem Zustand befinden sich die Bücher?
Dr. Michael Schütz, Leiter des Hildesheimer Stadtarchivs: Dem Stadtarchiv war bewusst, dass es in seiner Wissenschaftlichen Bibliothek einen größeren konservatorischen und restauratorischen Handlungsbedarf gibt. Dies liegt vor allem an den unterschiedlichen, zum Teil sehr alten Bibliotheksbeständen, die im 20. Jahrhundert in die eigentliche Dienstbibliothek des Archivs übernommen wurden. Dank des großen Einsatzes der Studierenden der HAWK Hildesheim, die fast 12.000 Bände begutachtet haben, wissen wir nun, dass – auf den Gesamtbestand übertragen – nur 58 Prozent der Bücher keine Schädigungen am Einband aufweisen, während 32 Prozent geringfügige und 10 Prozent umfangreiche Beschädigungen haben. Auch sind fast alle Bücher äußerlich verunreinigt und benötigen aus hygienischen Gründen eine Trockenreinigung.
Was sind aus restauratorischer Sicht die größten Herausforderungen? Wo liegen die häufigsten »Schwachstellen« der Bücher?
Prof. Ulrike Hähner, Leiterin der Studienrichtung Konservierung und Restaurierung von Schriftgut, Buch und Graphik an der HAWK Hildesheim: Die größte Herausforderung liegt in der Menge der beschädigten und gefährdeten Dokumente in Archiven und Bibliotheken. Die Erhaltungsmaßnahmen müssen daher für viele Objekte einsetzbar, d.h. weitgehend standardisiert sein. In der Praxis bedeutet dies, dass sehr viele Objekte gleichzeitig der Benutzung entzogen und zu Chargen für die ausgewählten Erhaltungsmaßnahmen zusammengestellt werden. Innerhalb festgelegter Zeiträume werden sie danach durch verschiedene Berufsgruppen intern und extern bearbeitet und behandelt. Mengentaugliche Erhaltungsmethoden erfordern daher eine gute Planung, Kontrolle und Mitarbeiterführung. Für die Ausstellung »Bücher erhalten…« haben wir gemeinsam mit dem Stadtarchiv Hildesheim die notwendigen Vorarbeiten auf der Grundlage der Weimarer Erkenntnisse untersucht, angewendet, teilweise auch weiterentwickelt, und unsere Ergebnisse visualisiert.
Die Schwachstellen der Bücher sind in der Regel die Bereiche des Buchrückens. Der Gebrauch der Bücher belastet zwangsläufig die Rücken- und die unmittelbar anschließenden Gelenkbereiche. In den Bibliotheken standen die Bücher zudem jahrzehntelang ungeschützt in den Regalen. Die Buchrücken waren folglich den verschiedenen atmosphärischen Einwirkungen ausgesetzt, wie Klimaschwankungen, Luftverschmutzung, Staub, Licht, welche die Alterung der Einbandmaterialien beschleunigen. Man kann diese komplexe Materialalterung mit dem eingängigen Wort der Materialermüdung beschreiben, welche diese Bereiche sehr empfindlich macht und Schädigungen begünstigt. Unachtsames Entnehmen der Bücher aus den Regalen – z.B. Ziehen am oberen Kapital – oder nicht angemessene Transport- und Benutzungsbedingungen reichen oftmals für Schädigungen aus und führen zu Rissen oder Fehlstellen.
Was ist Ihre langfristige Strategie zur Erhaltung des Schriftguts? Wie wollen Sie die Bücher der Bevölkerung zugänglich machen?
Michael Schütz: Die eingangs erwähnte Verunreinigung der Bücher gilt es zunächst zu beseitigen. Dazu werden seit diesem Jahr alle bestellten Bücher zur Kontrolle und ggf. Trockenreinigung über die im Stadtarchiv vorhandene Restaurierungswerkstatt geleitet. Dabei sollen möglichst auch die geringfügigen Beschädigungen gleich beseitigt werden. Zumindest werden aber alle beschädigten Bücher in einer Liste erfasst. Die Zugänglichkeit der nachgefragten Bücher bleibt dadurch weitestgehend erhalten.
Parallel wird es regelmäßig Reinigungsaktionen geben, die durch Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Stadtarchivs ausgeführt werden. Dies soll zunächst an den bereits durch die Studierenden begutachteten Beständen erfolgen. Im Rahmen unserer finanziellen Möglichkeiten werden wir auch Reinigungsaufträge extern vergeben. Nach Abschluss dieser ersten Aktion, die sich vermutlich über einen Zeitraum von zwei bis drei Jahren hinziehen wird, wären dann 58 Prozent der Bücher schon einmal uneingeschränkt und 32 Prozent der Bücher (mit geringfügigen Beschädigungen) wenigstens eingeschränkt benutzbar.
Die geringfügig geschädigten Bücher, die von den Studierenden der HAWK in Listen erfasst wurden, werden wir zu Chargen zusammenfassen und ebenfalls im Rahmen unserer finanziellen Möglichkeiten extern restaurieren lassen. Dieses soll möglichst auch mit den 10 Prozent in Listen erfassten umfangreich beschädigten Büchern erfolgen, doch stehen dafür augenblicklich keine Mittel zur Verfügung. Diese beiden Maßnahmen werden aber erst nach Abschluss der Reinigungsaktion erfolgen können. Es ist unser Ziel, dies innerhalb der kommenden fünf Jahre umzusetzen.
Die augenblicklich größte Problematik besteht darin, auch die restlichen 68.000 Bände im Rahmen des laufenden Dienstbetriebs nach Schädigungsgrad zu erfassen. Dies wird zwar zum Teil bei den internen Reinigungsaktionen erfolgen können, aber wohl nur sehr eingeschränkt bei den externen. Eine vollständige Lösung für diese Problematik haben wir augenblicklich nicht. Auch bleibt immer zu berücksichtigen, dass die Wissenschaftliche Bibliothek nicht die einzige konservatorische und restauratorische Herausforderung für das Stadtarchiv darstellt, schließlich gilt es, sich auch um die Bestandserhaltung der in 6,5 Regalkilometern verwahrten Archivalien zu kümmern.
Die Ausstellung behandelt mit mehreren Exponaten auch die Bewältigung der Brandfolgen in Weimar. Inwiefern lassen sich die Erfahrungen auf nicht-brandgeschädigte Bücher übertragen?
Ulrike Hähner: Zwei Aspekte sind in diesem Zusammenhang wichtig: die Planung und Organisation der (Mengen-) Erhaltungsmaßnahmen sowie die Standardisierung der Ergänzungsmaterialien und Arbeitsmethoden. In Weimar entstand ein abteilungsübergreifender Prozessablauf, welcher aufbauend auf der Erstversorgung der brandgeschädigten Bücher durch Gefriertrocknung, Dekontamination- und Reinigungsmaßnahmen den gesamten Ablauf der weiteren Restaurierungsmaßnahmen steuerte und kontrollierte.
Im Rahmen unserer Lehrveranstaltungen haben wir die wichtigen Bestandteile der Planung des Brandfolgenmanagements noch einmal herausgearbeitet und sie mit Erfolg auf eine Institution, die keine Beschädigungen durch eine Katastrophe besitzt (das Stadtarchiv Hildesheim), für einen zuvor ausgewählten Bestand (die Wissenschaftliche Bibliothek) übertragen. Die Ergebnisse wurden in einem Erhaltungsplan erfasst, welcher in der Ausstellung zu sehen ist. Er impliziert die Zustandserfassung als wichtiges Instrument zur Ermittlung der benötigten Maßnahmen sowie zur Objektgruppenbildung nach Einbandmaterialien und Bindetechniken der Bücher, die Ressourcenkalkulation zu eigenen Kapazitäten bezüglich Raum, Budget und Personal (auch für Drittmittelanträge) und die Zielstellungen an die Erhaltungsmaßnahmen bezüglich der Erhaltung des Erscheinungsbildes und der Materialsubstanz.
Qualität und Effizienz dürfen sich nicht ausschließen. Aus bestandserhaltender und wirtschaftlicher Sicht sind daher Maßnahmen der Bestandspflege und Konservierung besonders interessant. Zu ihnen gehören die Maßnahmen der Schadensprävention aber auch Sicherungsmaßnahmen direkt an Materialien gefährdeter Objekte. Konservierte Bücher haben allerdings keinen neuen, strapazierfähigen Einband. Aus diesem Grund muss auch um Akzeptanz geworben werden, vor allem auch bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in den Institutionen, denn die Schwachstellen der Bücher müssen bei den alltäglichen Handlungen weiterhin berücksichtigt werden. Die Konservierung, dies konnte herausgearbeitet werden, ist daher eine interdisziplinäre Daueraufgabe und ein sehr innovatives Entwicklungsfeld.
Was sind die wichtigsten Schlüsse, die Sie für die Ausbildung von Restauratoren aus der Brandkatastrophe in Weimar ziehen?
Ulrike Hähner: Die Ausstellung »Bücher erhalten – Hildesheimer Studierende erproben Strategie« wurde im Rahmen von Modulen, unter anderem des Minors Bestandserhaltungsmanagement, mit Studierenden vorbereitet und erstellt. Zu den Vorarbeiten gehörten die Restaurierung beschädigter Ledereinbände nach Weimarer Vorbild sowie die Entwicklung eines Erhaltungsplans für die Wissenschaftliche Bibliothek des Stadtarchivs, welcher die oben genannten Aspekte impliziert. Wir haben beteiligte Studentinnen um ihre Meinungen gebeten. Sie geben die Bedeutung dieser Übertragungsarbeit für die Ausbildung sehr gut wieder.
»Die Aufgaben, die im Rahmen der Zustandserfassung von uns ausgeführt wurden, gingen weit über das in der Gesellschaft oftmals vorherrschende Bild der Restauratorin als Behandlerin von Einzelobjekten hinaus. Sie erforderten Weitsichtigkeit und ermöglichten uns, Kompetenzen im Managementbereich zu erwerben.« (Caren Dübbelde)
»Im Vordergrund stand für mich die Zusammenarbeit mit den verschiedenen Kooperationspartnern, denn diese praxisnahen Erfahrungen haben gezeigt, wie wichtig eine gute Kommunikation ist, um die Belange und Wünsche verschiedener Partner bei einem solch großen Projekt einfließen zu lassen. Ich denke, dass dieses Projekt uns sowohl gefordert, als auch gefördert hat und wir sehr stolz auf uns sein können, wenn die Ausstellung eröffnet und letztlich besucht wird.« (Lisa Handke)
»Im Vorfeld der Ausstellung stand u.a. die Entwicklung der Erhaltungsstrategie für die wissenschaftliche Bibliothek des Stadtarchivs Hildesheim auf Grundlage einer Zustandserhebung, welche für die Ausstellung in ein Prozessdiagramm übertragen wurde. Dieser Entstehungsprozess war für mich ein sehr wichtiger Erkenntniszugewinn beim Thema Strategieentwicklung und Strategiekommunikation.« (Ingrid Kohl)
»Besonders spannend und wichtig war für mich, die Kommunikation untereinander und mit den Kooperationspartnern über die Ziele, Schwerpunktsetzung und auch die festgelegten Anforderungen der einzelnen Institutionen an Räume, Sicherheit etc. zu beobachten und selbst zu üben. Für die Zukunft nehme ich mir mit, dass für die Organisation eines solchen Projektes eine grundlegende und mit allen Partnern abgestimmte Struktur sehr wichtig ist und dies eine gute Kommunikation, Offenheit und Kompromissbereitschaft erfordert.« (Friedericke Nithack)
Die Ausstellung »Bücher erhalten – Studierende erproben Strategie« ist noch bis zum 14. Mai 2017 im Roemer- und Pelizaeus-Museum in Hildesheim zu besichtigen. Sie zeigt die Ergebnisse einer interdisziplinären Zusammenarbeit zwischen Studierenden und Lehrenden der Hochschule für angewandte Wissenschaft und Kunst Hildesheim (HAWK) mit dem Stadtarchiv Hildesheim und der Herzogin Anna Amalia Bibliothek Weimar.
Am 21. April findet zudem ein interdisziplinäres Symposium zum Thema »Austausch zur Organisation der Aufgabe Erhaltung von Kulturgut« statt.