Herzogin Anna Amalia Bibliothek
Weimars Europa
Wer heute einen Blick in den Rokokosaal der Herzogin Anna Amalia Bibliothek wirft, wird von der räumlichen Inszenierung eines Weimarer Kosmos europäischer Literatur- und Kulturgeschichte nicht unbeeindruckt bleiben. In einem Oval wird die scheinbare Unendlichkeit einer Ordnung anschaulich, die vor allem durch Repräsentanten der politischen Geschichte, der Kunst und der Literatur vergegenwärtigt wird. Weimar in Augenhöhe mit der europäischen Geisteswelt: Auf der ersten Galerie stehen sich Dante, Sinnbild für das kulturelle Gedächtnis Europas, und Goethe gegenüber – getrennt und verbunden durch die Länge eines Ovals. Schräg hinter dem Dichter prunkt und mahnt Napoleon, der das alte Europa beendete, am Aufgang zur zweiten Galerie wacht Novalis, der um 1800 in wirkungsmächtiger Nostalgie die »glänzenden Zeiten« beschwor, »wo Europa ein christliches Land war«.
Alles in Ordnung? Ja – solange man nicht die Bücher zur Hand nimmt und darin liest: Hier schlummert Subversives, stehen konkurrierende und widerstreitende Perspektiven im Regal in unmittelbarer Nachbarschaft: Übersetzungen der europäischen Literatur, gegenläufige Rechtsauffassungen, polemische Flugschriften, dynastische Herkunftsgeschichten und Revolutionsschriften, ja Militärisches, Erotisches und auf Karten gebanntes Weltwissen im Plural.
Diese Pluralität der Perspektiven ist Europa. Sie ist nicht beliebig, und nicht harmonisch, bedeutet vielmehr Arbeit, auch Streit und bedarf allemal Formen der Vermittlung. Sie kann in den Archiven, Bibliotheken und Museen erlesen und erschaut werden. Die »Geburt Europas im Mittelalter« (Jacques Le Goff) ging einher mit der Entfaltung von Gegensätzen sozialer Gruppen, Institutionen und Regionen: Adel, Mönchtum und Gilden sowie Kirche und Staat oder Stadt und Universität mitsamt ihren Vorstellungen von standesbewusstem Reichtum oder freiwilliger Armut, Herrschaft oder Gleichheit sowie Glauben und Wissen oder den Grenzen im Westen und Osten. Diese Pluralität der Perspektiven muss eine Gesellschaft und jeder Einzelne im Geiste Europas aushalten können und verfügbare Angebote der Überlieferung nutzen wollen: Die europäische Lebens- und Überlebenskunst ist es, Verträge auch nach gewaltsamen Konflikten auszuhandeln, im Austausch oder den verschiedensten Übersetzungsleistungen Brücken zu bauen und auch in prekären Lagen an Leitideen wie ›Humanität‹ oder ›ewigem Frieden‹ (Kant) festzuhalten, selbst wenn zu den Erfahrungen der Gegenwart brutale Auseinandersetzungen und Verbrechen ebenso gehören wie der laut vorgetragene Wunsch nach Naivität.
Europäisch denkt, wer widersprüchliche Perspektiven anerkennt, im Wissen um die Möglichkeitsspielräume der Vergangenheit in die Zukunft blickt und einen Beobachter zulässt, der uns aus Ost oder West, Nord oder Süd zuruft: »Weimars Europa? Wie interessant – auch ein kulturelles Phänomen aus der deutschsprachigen Provinz.«
Der Text ist ein Beitrag zur Blogparade »Europa ist für mich …« | #SalonEuropa des Museums Burg Posterstein.
Lieber Herr Laube,
mich freut es enorm, dass Sie bei der Blogparade #SalonEuropa mitgemacht haben und aus der Perspektive der europäischen Dichter und Denker das Thema angingen. Als Sie dann noch Jacques Le Goff zitierten, der auch großen Raum in meiner Dissertation einnahm, war es um mich geschehen. Wie funktioniert ein Salon, wie startete Europa. In Frankreich unter Philipp August wurde das französische Königtum konsolidiert. Er mauserte sich mehr zu dem Großen unter Großen und wurde mehr als nur einer unter vielen. Das setzten die Nachfolger durch andere Strukturmaßnahmen fort. Der Ursprung war aber Unterdrückung. Das was Europa jetzt ist, hat damit nichts zu tun, aber es gibt gefährliche Tendenzen zu Macht, Verlust der Menschlichkeit, um Macht zu erhalten. Gedanken, die mich bei dem Gedanken rund um Europa beschäftigen, Gedanken, die noch diffus sind.
Und ja, Europa ist eine Chance, die wir alle begreifen sollten und da finde ich Ihren Ansatz, ausgehend von den Büchern der großen Denkern in der Anna Amalia Bibliothek, grandios.
Merci!
Sonnige Grüße
Tanja Praske von KULTUR-MUSEUM-TALK