Martin Mosebach © Susanne Schleyer

Carl Ermer, Schmucktitel zum »West-östlicher Divan«, nach der Vorlage von Johann Wolfgang von Goethe © Klassik Stiftung Weimar

Pappkuvert, eigenhändig von Goethe mit arabischen Schriftzeichen versehen, Behältnis für Manuskripte zum »West-östlichen Divan«, 1818 © Klassik Stiftung Weimar

Von Goethe gezeichnetes Schmuckblatt aus der Folge »Talismane« des West-östlichen Divans, in der Art einer orientalischen »Wolken«-Handschrift gestaltet.

J. W. v. Goethe: Arabische Schreibübungen aus der Zeit des ›West-östlichen Divans‹, 1816 © Klassik Stiftung Weimar

Martin Mosebach: »Land der Dichtung«

Martin Mosebach über Goethes Inspiration, die Gedichtsammlung »West-östlicher Divan« zu verfassen. Ein Auszug aus »Das Land der Dichtung – Über Inspiration«, eingelesen vom Schauspieler Peter Rauch.

Ich möchte, bei Goethe schließlich angelangt, dem Kronzeugen der Inspiration, auf dasjenige seiner Werke zu sprechen kommen, das den Gedanken der Inspiration am reinsten verwirklicht – ja, um es höchst widersprüchlich auszudrücken, das unter dem Vorzeichen eines intellektuellen Konzepts von der Inspiration steht. Der Genius, der in diesem großen Werk die Dichtung anregt und überhaupt möglich macht und teilweise sogar unmittelbar hervorbringt, ist hier weniger als eine Person präsent, er erscheint vielmehr aufgelöst in einen Raum, den der Dichter betritt, dessen Luft er atmet, dessen Stimmen er aufnimmt, in dessen Echos er einstimmt, ein Raum, in dem alles Dichtung ist, in dem die Namen der einzelnen Dichter aber eine untergeordnete Rolle spielen, schon gar nicht im Sinne des Copyright.

Man könnte sich diesen Raum mit einem zeitgenössischen Bild etwa vorstellen wie von einer poetischen Jam session erfüllt; wer in ihm als Dichter seine Stimme erhebt, tut es, um einzustimmen, mitzusingen, sich von der poetischen Dichte, die hier herrscht, tragen zu lassen, wie die Körper im salzgesättigten Toten Meer nicht untergehen können. Mit diesem Meer ist schon angedeutet, wo sich dieser Raum befindet, den man betritt, indem man am Eingang seine Individualität abgibt: es ist der Osten, das Land der aufgehenden Sonne, und das Werk, das in ihm entstanden ist, ist der West-östliche Divan.

Pappkuvert, eigenhändig von Goethe mit arabischen Schriftzeichen versehen, Behältnis für Manuskripte zum »West-östlichen Divan«, 1818 © Klassik Stiftung Weimar

Pappkuvert, eigenhändig von Goethe mit arabischen Schriftzeichen versehen, Behältnis für Manuskripte zum »West-östlichen Divan«, 1818 © Klassik Stiftung Weimar

Das Programm zu diesem Werk hat Johann Georg Hamann, Goethes geheimer Lehrmeister, lange bevor es selbst auch nur geahnt, geschweige denn gedacht werden konnte, in seiner Aesthetica in nuce formuliert: »Poesie ist die Muttersprache des menschlichen Geschlechts … Sinne und Leidenschaften reden und verstehen nichts als Bilder. In Bildern besteht der ganze Schatz menschlicher Erkenntniß und Glückseeligkeit … Wodurch sollen wir aber die ausgestorbene Sprache der Natur von den Todten wieder auferwecken? – Durch Wallfahrten nach dem glücklichen Arabien, durch Kreuzzüge nach den Morgenländern, und durch die Wiederherstellung ihrer Magie.«

Es ist die Reise auf der Suche nach der verlorenen Unmittelbarkeit, von der Hamann spricht, und die Goethe mehr als dreißig Jahre später antreten wird, indem er sich vornahm, in diesen Morgenländern als ein jugendlich Beweglicher, Unfertiger, Beeindruckbarer aufzutreten, der sich der Führung und der Prägung durch eine andere Welt und die Verbindung mit anderen Menschen bereitwillig überließ. Sein Genius nahm die Gestalt eines Landes an –

Wer das Dichten will verstehen
Muß in’s Land der Dichtung gehen

– diese Devise, die Goethe seinen Noten und Abhandlungen zum Divan voranstellte, gibt dem Raum, in dem der Divan entstand, seinen Namen. Im Land der Dichtung wird jeder zum Dichter, weil die Sprache dort die Poesie, die Bildersprache ist. Es nimmt den Flüchtling auf, wenn der bereit ist, sein ästhetisch philosophisches, sein humanistisch rationalistisches Gepäck aufzugeben und gleichsam waffenlos einzureisen. Und Flüchtling war Goethe, gleich in mehrerer Hinsicht.

Schon der Titel des Eingangsgedichts Hegire – die französische Version von Hedschra, der Flucht des Propheten von Mekka nach Medina – bekennt den Eskapismus, der von uns gern moralisch schief angesehen wird, weil wir uns zumuten sollen, alles uns Unbekömmliche bis zur bitteren Neige auszukosten, anstatt ihm den Rücken zuzukehren. Der Divan ist die Flucht Goethes aus der Politik nach seinem schier bedingungslosen Engagement für den räuberischen Napoleon, an dem er auch noch festhielt, als der Kaiser seine vor allem aus deutschen Soldaten bestehende Grande Armée in die russische Katastrophe führte; nun sah er sich unter seinen Zeitgenossen verdächtigt und isoliert.

Carl Ermer, Schmucktitel zum »West-östlicher Divan«, nach der Vorlage von Johann Wolfgang von Goethe © Klassik Stiftung Weimar

Carl Ermer, Schmucktitel zum »West-östlicher Divan«, nach der Vorlage von Johann Wolfgang von Goethe © Klassik Stiftung Weimar

Es ist die Flucht aus dem Altern, dem Stumpf-, Kalt- und Zynisch-Werden, der erotischen Unempfindlichkeit, und es ist die Flucht aus den Festlegungen des eigenen Lebenswerks, aus dem Klassizismus und den aus der Antike übernommenen Konventionen. Lasten abschütteln, jung werden, kein Ich mehr sein, wenn dies Ich Festlegung auf verbackene, verkrustete Erfahrung bedeutet – das sind die Hoffnungen, die sich mit dieser Flucht verbinden.

Gedanken denken, die nicht die eigenen Gedanken sind, Wörter sprechen, die andere schon gebraucht haben, sich einer anderen Tradition unterordnen, wie sich die Tänzer dem Rhythmus einer Melodie unterordnen, im Zutrauen, daß die poetische Schönheit sich offenbart, wenn man ihr ohne Ehrgeiz, Prätention, Prinzipien, Originalitätsgier und Eitelkeit naht.

Es gibt zahllose Gesichtspunkte, unter denen man die Dichtung des Westöstlichen Divans betrachten kann – ich möchte, angeregt durch das Nachdenken über die Rolle der Inspiration beim Gedichteschreiben, einen einzigen Aspekt dieses für die deutsche Literatur so untypischen und sie zugleich krönenden Gedichtzyklus andeuten. Der reisende, der fliehende Dichter, der die Grenzen des Landes der Dichtung überschreitet, ist hier dem Gedicht ohne Autor auf der Spur, dem sich selbst schreibenden Gedicht, das wie die berühmten Acheiropoietos-Ikonen seinen Ursprung nicht einem individuellen Schöpfer verdankt, sondern aus einer poetischen Kultur aufschießt, Gedichte, die Gemeinschaftswerke sind, an denen Dichter mehrerer Generationen und sogar die Sprache selbst mitgeschrieben haben.

J. W. v. Goethe: Arabische Schreibübungen aus der Zeit des ›West-östlichen Divans‹, 1816 © Klassik Stiftung Weimar

J. W. v. Goethe: Arabische Schreibübungen aus der Zeit des ›West-östlichen Divans‹, 1816 © Klassik Stiftung Weimar

Dies Land der Dichtung ist kein historisch- geographisch umgrenzter Raum. Das Gränzenlose, mit ä geschrieben, ist vielmehr gerade ein Schlüsselbegriff in diesem Zyklus; diese Gränzenlosigkeit hebt wirklich alle Grenzen auf und öffnet den Blick bis hinter den Horizont. Die alten jüdischen Patriarchen, die frühmittelalterlichen Beduinen, die heidnischen Sassaniden, die Parsen und natürlich die Muslime vorzugsweise Persiens, die Wüste und die Kaiserstadt, die Karawane und der Hof, das Zelt und der Palast, das Schlafzimmer und die Moschee – dies alles verschwimmt in Gleichzeitigkeit, und überall liegen die Materialien der Dichtung zum Gebrauch von jedermann herum.

Dichten ist ein erotisches Spiel, der Reim entsteht durch das Gespräch der Verliebten, er hat keinen einzelnen Autor, sondern zwei, die ihn sich unvorhersehbar entwickeln lassen können. Zum Konzept des Divans gehört dies Auflösen der Individualität, das Verströmen in andere Seelen, um sich mit ihnen zu verschmelzen, das Verunklaren der Autorschaft, das Ausprobieren fremder Gedanken, die man sich im Gedicht zu eigen macht, ohne sie deshalb, schon gar nicht auf der Ebene der ›Meinung‹, des ›Bekenntnisses‹, zu übernehmen.

Die gelehrte Frage, die noch heute die Wissenschaft beschäftigt, wieweit Goethe mit dem Islam sympathisiert habe, ob der Dichter mit dem Gebet des Parsen womöglich wirklich seiner persönlichen religiösen Überzeugung Ausdruck verliehen habe, wie allen Ernstes behauptet worden ist, geht weit am Ziel vorbei; es gehört geradezu zum Prinzip des Divans, sich von den Strudeln und Strömungen einer fremden Gedankenwelt treiben zu lassen. ›Hat der Dichter etwas zu sagen?‹, das ist auch heute noch eine beliebte Kritikerfrage.

Goethe wirft die Pflicht, etwas sagen zu müssen, eine Botschaft zu verkünden, das Ureigene, Unverwechselbare preiszugeben, im Divan ab, weil es nicht zur Substanz des Dichterischen gehört. Die besteht in etwas anderem: in einem Zustand. So wie es in dem Gedicht Anklage heißt, im Buch Hafis:

Weiß denn der [der Dichter] mit wem er
geht und wandelt?
Er, der immer nur im Wahnsinn handelt.
Gränzenlos, von eigensinn’gem Lieben,
Wird er in die Oede fortgetrieben,
Seiner Klagen Reim, in Sand geschrieben,
Sind vom Winde gleich verjagt;
Er versteht nicht was er sagt,
Was er sagt wird er nicht halten.

Der Dichter gleicht einem Saiteninstrument, auf dem eine ganze Kultur von Jahrhunderten ihr Lied spielt, und Goethe wollte im Divan nichts anderes mehr sein als ein solches Instrument.

Es ist ein verblüffendes Erlebnis, wenn man liest, wie die zartesten und eigentümlichsten, die persönlichsten Gedichte seines Lebens oft nichts anderes sind als die verknappende, präzisierende Bearbeitung altorientalischer Schriftsteller, wie er sie in der Quellensammlung des Orientalisten Joseph von Hammer-Purgstall vorfand; das buchstäblich ihm vor die Füße Gerollte ist gerade recht als Anlaß zu einem Gedicht. Und oft ist gerade das Element, das den größten poetischen Reiz auslöst, eben nicht seine Erfindung, sondern in der Vorlage entdeckt und in seiner Poesie-Trächtigkeit erkannt worden.

Um nicht den ganzen Divan zu zitieren, ein einziges kurzes Beispiel. In Hammers Fundgruben wird ein Mann aus dem Stamm der Galga-Inguschen, eines kleinen Kaukasus-Volkes, geschildert, der freiheitsliebend die Forderung nach Unterwerfung zurückweist; man solle ihn fortreiten lassen, »über seiner Mütze sehe er nur den Himmel«.

Goethe machte aus dieser Antwort des wilden Mannes das kleine Gedicht Freysinn gleich im ersten Divan-Buch.

Laßt mich nur auf meinem Sattel gelten!
Bleibt in euren Hütten, euren Zelten!
Und ich reite froh in alle Ferne,
Ueber meiner Mütze nur die Sterne.

Es ist ja das Wort »Mütze«, an dem der spezifische Reiz dieser kleinen Verse hängt, die Mütze gibt ihnen die knabenhafte Frische, die spielerische Lust, auch das Vergegenwärtigende, das ist nun kein Galga-Ingusche mehr, das ist jeder, der schon einmal nachts aufgebrochen ist und ein altes Leben hinter sich gelassen hat.

Die Methode, mit dem Fremden das eigene zu sagen, entdeckt er gleichfalls in Hammers Quellensammlung, wo er sich für die Chiffern-Briefe begeistert: den Brauch Liebender, sich mit bezeichneten Stellen in einem Gedichtband zu unterhalten und das höchst Eigene mit fremden Zitaten auszudrücken. Die Anekdote, daß der Sassanidenkönig Behramgur gemeinsam mit seiner Favoritin den Reim erfunden habe im 5. Jahrhundert, wird folgenreich für Goethe. Die Veranlassung zur Erfindung des Reims soll Dilaram, seine Geliebte, gewesen sein, »welche aus gleichgestimmter liebender Gesinnung die Rede ihres Kaisers und Geliebten mit gleichgemessenen und am Ende gleichtönenden Worten wiederholt habe.« Noch nach der Divan-Zeit hat Goethe dieser Geschichte im Faust II ein Denkmal gesetzt, wenn er Faust und Helena aus den antiken Versen in den Reim hinübergleiten läßt.

HELENA: So sage denn, wie sprech’ ich
auch so schön?
FAUST: Das ist gar leicht, es muß von
Herzen gehen.
Und wenn die Brust von Sehnsucht
überfließt,
Man sieht sich um und fragt –
HELENA: Wer mit genießt.
FAUST: Nun schaut der Geist nicht
vorwärts nicht zurück,
die Gegenwart allein –
HELENA: Ist unser Glück.

So hat Goethe selbst in der Divan-Zeit seine Freundin Marianne von Willemer in das Dichten eingeführt, Behramgur und Dilaram wurden in den beiden lebendig, so daß Marianne-Suleika an Hatem- Goethe schreiben kann:

War Hatem lange doch entfernt,
Das Mädchen hatte was gelernt,
Von ihm war sie so schön gelobt,
Da hat die Trennung sich erprobt.
Wohl daß sie dir nicht fremde scheinen;
Sie sind Suleika’s, sind die deinen!

Und so verfuhr Goethe auch mit Mariannes Gedichten, er gab sie als die seinen heraus, aber nicht weil er sich mit fremden Federn schmücken wollte, sondern weil es geradezu zum inneren Gesetz des Divans gehört, daß er nicht das Eigentum eines Autors ist – Goethe, einer der Erfinder des Urheberrechts, setzt in seinem bedeutendsten Dichtwerk auf den Dichter als Unperson – er hätte Rimbauds Wort: »Je est un autre« übertreffen können: ich bin viele andere.

Von Goethe gezeichnetes Schmuckblatt aus der Folge »Talismane« des West-östlichen Divans, in der Art einer orientalischen »Wolken«-Handschrift gestaltet.

Von Goethe gezeichnetes Schmuckblatt aus der Folge »Talismane« des West-östlichen Divans, in der Art einer orientalischen »Wolken«-Handschrift gestaltet.

Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang auch, wie er die Sammlung seinen Sekretären mit der Anweisung übergibt, nach ihrem Gutdünken die Zeichen zu setzten – aber nicht zu viele! Man denke nur, welches Gewicht ein Komma oder das Ausbleiben eines solchen in einem neueren Gedicht hat, um das Ausmaß dieser Unbekümmertheit angesichts fremder, durchaus akzentuierender Eingriffe in die lyrischen Gebilde zu begreifen. Auch die Sprache der Divan-Gedichte spricht von einem Geist der Entpersönlichung. Wann wäre ein Gedicht-Zyklus jemals mit derart nüchternen, an Gleichgültigkeit grenzenden Worten vorgestellt worden: »Zuvörderst also darf unser Dichter wohl aussprechen daß er sich, im Sittlichen und Aesthetischen, Verständlichkeit zur ersten Pflicht gemacht, daher er sich denn auch der schlichtesten Sprache, in dem leichtesten, faßlichsten Sylbenmaße seiner Mundart befleißigt und nur von weitem auf dasjenige hindeutet, wo der Orientale durch Künstlichkeit und Künstelei zu gefallen strebt« – hier wird keine Schulfibel vorgestellt, sondern der größte Gedichtschatz der Deutschen, die ihn denn auch gar so schlicht, verständlich und leicht faßlich nicht gefunden haben.

Und das ist er auch nicht, er ist geheimnisvoll und tief, aber das war nicht die Intention des Dichters, es hat sich ereignet, es ist hinzugetreten, als der Dichter von der eigenen Person absah und sich der Führung anderer Kräfte überließ. Martin Luther bemerkt einmal, daß Gott die Welt aus Nichts geschaffen habe, und das heiße: wer nicht nichts geworden sei, aus dem könne Gott auch nichts machen. Er formuliert damit nichts anderes als das Grund- und Hauptgesetz der Inspiration.

Martin Mosebach

Martin Mosebach, geboren 1951 in Frankfurt a. M., lebt bis heute in seiner Geburtsstadt. Sein erster Roman, »Das Bett«, erschien 1983. Alle seine Romane, »Mogador« ist der elfte, sind nicht in Frankfurt und nicht einmal in Deutschland geschrieben worden. Für seine Werke erhielt Mosebach zahlreiche Auszeichnungen und Preise, u. a. den Heinrich-von-Kleist-Preis, den Großen Literaturpreis der Bayerischen Akademie der Schönen Künste, den Georg-Büchner-Preis und die Goethe-Plakette der Stadt Frankfurt.

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