Goethe, Schiller und die Weimarer Klassik · Kosmos Weimar
»Immer Goethe«
Die letzten Lebensjahre von Käthe Kollwitz, deren 150. Geburtstag in diesem Jahr gefeiert wird, fallen in die weltumstürzende Zeit des Zweiten Weltkrieges. Als die Reichshauptstadt zusehends ins Visier der alliierten Angriffe rückt, drängen Freunde die Künstlerin, Berlin zu verlassen. Die Bildhauerin Margarete Böning bietet ihr an, nach Nordhausen an den Südrand des Harzes zu ziehen, um dort mit ihrer Familie zu leben. Hier scheint es noch halbwegs sicher.
Aber, es ist noch nicht das Ende. Es kommt noch Moritzburg, die letzte Station ihres Lebens. Prinz Ernst Heinrich von Sachsen war ein engagierter Graphiksammler und Liebhaber ihrer Werke und residierte auf Schloss Moritzburg. Seiner Vermittlung ist es zu verdanken, dass die Künstlerin das später auch bedrohte Nordhausen verlassen kann, um ihre letzten Lebensmonate vom Juli 1944 bis zu ihrem Tod am 22. April 1945 auf dem »Rüdenhof« zu verbringen.
In Moritzburg trifft sie am 20. Juli 1944 ein. Die siebenundsiebzig Jahre alte Künstlerin ist zu diesem Zeitpunkt gesundheitlich bereits schwer angeschlagen. Sie sieht und hört schlecht, kann nur noch mühsam laufen, leidet an den Folgen eines Schlaganfalls. Bei ihr sind ihre Schwester Lise Stern und deren Nichte Clara. Später wird die Enkelin Jutta den kleinen Haushalt führen. Trotz der familiären Nähe fühlt sich die Künstlerin unglücklich, alt und untätig. Im März 1945 steht die russische Armee bereits bei Görlitz, Luftlinie 90 Kilometer entfernt. Die Kollwitz-Enkelinnen sind fort, um die Evakuierung der Großmutter zu organisieren. Käthe Kollwitz war, so erinnert sich Marianne Werker, am Ende ihres Lebens praktisch allein. Die Ärztin ist es wohl auch, die Käthe Kollwitz am Vormittag des 22. April 1945 zuletzt lebend sieht. Da war sie bereits ohne Bewusstsein. Wenige Stunden später ist sie tot.
Der Seelentröster und Wegbegleiter dieser letzten Lebensphase von Käthe Kollwitz ist in besonderer Weise Johann Wolfgang von Goethe. Die Enkelin Jutta Bohnke-Kollwitz, die Käthe Kollwitz im letzten halben Jahr betreute, las ihr jeden Abend aus Goethes ›Dichtung und Wahrheit‹ vor. In ihrem Zimmer über dem Bett hängt Goethes Lebendmaske von 1807, »der wundervolle Abguss« gehört zu den wenigen Dingen, die Kollwitz noch Freude bereiten. Am 19. September 1944 schreibt Clara Stern an Margret Böning:
»Jeden Abend streichelt sie ihren Goethekopf«.
Als die Augen in kurzer Zeit immer schlechter werden, lässt sie ihn sich reichen und tastet ihn mit geschlossenen Augen ab, zur »Orientierung«, wie sie sagt, und um sich dem Dichter noch ganz nahe zu fühlen.
Drei gänzlich unterschiedliche Dinge sind es, die Käthe Kollwitz in den letzten Lebenswochen in besonderer Weise bewegen: Zum einen der Gehstock, den sie seit dem Tod ihres Mannes benutzt. Dann ist es ihr Sohn Hans, auf den sich ihre Gedanken intensiv richten. Ihr Geist jedoch beschäftigt sich vor allem mit Goethe:
»Denn Goethe war ihr unendlich lieb; er stand ihr viel näher als irgendein anderer Dichter, wie ein Freund, wie ein Zielpunkt des eigenen Lebens«,
schreibt Jutta Bohnke-Kollwitz in Erinnerungen an meine Großmutter. Noch bei seinem letzten Besuch in Moritzburg, ist es Goethe, der die glückliche Stimmung zwischen dem Sohn Hans und Käthe Kollwitz literarisch widerhallen lässt: »Ich las ihr die Ostergeschichte aus dem Matthäusevangelium, die sie früher so oft als Oratorium gehört hatte, und den Osterspaziergang aus ihrem geliebten ›Faust‹ vor. […]«, hält Hans im Vorwort seines Bandes Tagebuchblätter und Briefe fest.
Aber Goethe bedeutet im Leben von Käthe Kollwitz weit mehr als ein Trost in ihren letzten Lebensmonaten. Er begleitet sie vielmehr von Jugend an, im Leben wie in der Kunst:
»Goethe hat sehr früh bei mir Wurzel gefaßt. Ich habe ihn mein ganzes Leben lang nicht mehr gelassen«
schreibt Kollwitz in ihren autobiographischen Aufzeichnungen.
Ludwig Kaemmerer, einer der frühen Biographen der Kollwitz, berichtet 1923 über die literarischen Vorlieben der Künstlerin, die sie in einem von ihr selbst erstellten Schema aufgeführt hat: neben Zola, Ibsen und Arne Garborg besonders auch die Russen Tolstoi, Dostojewski und Gorki. Bei den deutschen Autoren ist es natürlich Gerhard Hauptmann und viele andere. Doch sie fasst all die im Schema genannten Autoren am Rand mit einer Klammer zusammen. Dahinter schreibt sie lapidar mit Ausrufezeichen:
»Immer Goethe!«.
Er ist ohne Frage der wichtigste! Ist es zunächst ein bildungsbürgerliches Interesse, das der damals ganz allgemeinen Verehrung des Weimarer Dichters entspricht, wächst sie mit den Jahren gleichsam zu Goethe hin; durch eine eminente Belesenheit, detaillierte Werkkenntnis, die Fähigkeit, ganze Gedichte und Textpassagen aus seinen Werken zu memorieren. Lieblingsgedichte rezitiert und zitiert sie immer wieder: Diese Beschäftigung mit Goethe ist daher weit mehr als der Beweis zeitgebundenen Bildungsstrebens. Bei ihm findet sie eine Seelen- und Künstlerverwandtschaft, aber auch Erhebung und Bereicherung; durch ihn reflektiert sie persönliche Erlebnisse, Empfindungen und Stimmungen. Momente des Glücks und mehr noch der Besinnung, des Zweifels, der Verzweiflung durchlebt sie mit ihm. Er ist ihr über die Zeit hinweg ganz nah und bleibt doch auch das bewunderte, unerreichbare Genie, ein menschlicher, intellektueller und künstlerischer Maßstab.
Auch ihre beiden Söhne, Hans und Peter, macht sie früh mit Goethe vertraut: »Ich habe Hansens Geburtstagstisch soeben fertig gemacht. Es sind Rollschuhe darauf, eine schöne Weckeruhr, zwei Bände Goethe«, notiert sie am 13. Mai 1910 in ihrem Tagebuch. Ganz besonders, wenn sie sich selbst in einer kritischen Seelenverfassung befindet, hilft ihr Goethe wie eine literarische Medizin, Distanz zu den eigenen Gefühlen zu gewinnen und wieder Tritt zu fassen. So dienen ihr Goethes Gespräche mit dem Kanzler Müller dazu, ihre künstlerische Lebenshaltung zu formulieren:
»›Mir ist in allen Geschäften und Lebensverwicklungen‹«, zitiert sie Goethe in ihrem Tagebuch, »›das Absolute meines Charakters sehr zustattengekommen. Ich konnte vierteljahrelang schweigen und dulden wie ein Hund aber meinen Zweck immer festhalten. Trat ich dann mit der Ausführung hervor, so drängte ich unbedingt mit aller Kraft zum Ziele, mochte fallen rechts oder links was da wollte.‹«
Bisweilen geht sie so weit, sich unmittelbar mit ihm zu vergleichen, etwa nach der Lektüre von Dichtung und Wahrheit:
»Jedenfalls seh ich Goethe auf einem Wege zur Entfaltung kommen, den ich immer abgelehnt habe. Er will möglichst Vielseitigkeit und Breite, ich wollte Beschränkung in allem anderen ausgenommen der einen Sache, die ich wirklich wollte.«
Zweifellos repräsentiert Goethe für sie, das höchste Maß des genialen Künstlertums, aber nur Goethe wird ihr ständiger Dialogpartner.
Kunst und Leben sind im Schaffen von Käthe Kollwitz untrennbar miteinander verwoben. Und auch Goethe findet in der künstlerischen Arbeit Niederschlag. Frühe Radierungen wie z.B. An der Kirchenmauer (1893) oder Gretchen (1899) lassen sich in Beziehung zu Goethes Faust setzen. Doch am tiefsten verbinden sich das persönliche Erleben und die künstlerischen Ambitionen von Kollwitz mit der weltgeschichtlichen Situation im jahrelangen Ringen um das Denkmal für den geliebten Sohn Peter, der im Ersten Weltkrieg fällt.
Der Tod ihres wandervogel-bewegten Sohnes ist das sie am stärksten erschütternde Ereignis ihres Lebens, eine existentielle Herausforderung. Als Mutter kann sie ihn nicht überwinden. Aber die Künstlerin spürt, dass dieser sinnlose Tod, einer von rund 17 Millionen sinnlosen Toten dieses Krieges, exemplarisch für eine ganze Generation steht. Nur in der Kunst lässt sich ein Weg finden, das persönliche Unglück zu bewältigen und zugleich ein mahnendes Gedenken für eine ganze »verlorene« Generation zu stiften. Und gerade hier wird ihr Goethe als Ferment, Inspirator und übergeordneter Bezugspunkt wichtig. Die Vergeblichkeit und Sinnlosigkeit des Todes ihres Sohnes hat Käthe Kollwitz sofort verstanden. Dass die künstlerische Positionierung die einzig angemessene Manifestation sei, diese Erkenntnis findet sie durch Goethe stets bestärkt. Am 31. Januar schreibt sie in einem Brief an den Sohn Hans, sie habe das Gedicht Goethes Urworte. Orphisch neu verstanden. Goethe widmet die erste Stanze dem menschlichen »Dämon«, also der nach antiker Überlieferung definierten menschlichen Persönlichkeit, die sie von allen anderen unterscheidet. Peter ist der Welt nur »verliehen« und Käthe Kollwitz beklagt in einem Brief vom 31. Januar 1915an Hans Kollwitz, dass man dies in seiner menschlichen Verbundenheit und Nähe allzu leicht vergisst. Auch am 6. Februar 1915 zitiert sie Goethe in Erinnerung an den Sohn. Sie notiert im Tagebuch:
»Immer derselbe Traum: Er wäre noch da, es wäre noch eine Möglichkeit daß er lebte und wiederkäme und dann noch im Traum die Erkenntnis, er ist tot. ›Saatfrüchte sollen nicht vermahlen werden.‹«
Hier taucht erstmals dieser Satz »Saatfrüchte sollen nicht vermahlen werden« auf, der aus dem Lehrbrief in Wilhelm Meisters Lehrjahre stammt und für sie fast formelhaft ihr Credo ausdrückt. Aber sie begnügt sich nicht mit dem Hinweis auf diese Stelle, sondern entwickelt das Bild weiter, ganz persönlich mit Blick auf Peter und sich selbst.
Goethes Sentenz verdichtet sich in den kommenden Jahren zur mehrfach genutzten sinnbildhaften Chiffre, für eine Haltung, die sich von der Bewältigung des persönlichen Verlustes durch künstlerische Arbeit zu einer grundsätzlichen Ablehnung des Krieges entwickelt. In einem offenen Brief etwa wendet sie sich am 28. Oktober 1918 gegen den lange verehrten Richard Dehmel. Sie geißelt den Wahnsinn, kurz vor dem Ende des Krieges die letzten Reserven in einen sinnlosen und verlorenen Krieg zu schicken, wie es der Dichter in seinem öffentlichen Apell fordert. Kollwitz entgegnet: »Es ist genug gestorben! Keiner darf mehr fallen! Ich berufe mich gegen Richard Dehmel auf einen Größeren, welcher sagte: ›Saatfrüchte sollen nicht vermahlen werden!‹«.
So ist es kein Zufall, dass sie ihre allerletzte graphische Arbeit, eine Lithographie gegen den Krieg von 1941/1942 mit diesem Zitat verbindet:
»Ich konnte es gar nicht mehr aushalten, fühlte mich verpflichtet, öffentlich zu sagen, wie ich dazu stehe.« »Diesmal gucken die Saatfrüchte – sechzehnjährige Bengel – der Mutter überall aus dem Mantel raus und wollen ausbrechen. Aber die alte zusammenhaltende Mutter sagt: Nein! Ihr bleibt hier! Einstweilen dürft ihr euch raufen. Aber wenn ihr groß sein werdet, habt ihr euch auf das Leben einzustellen und nicht wieder auf den Krieg.«
In dieser Zeit fasst Käthe Kollwitz gegenüber einem Briefpartner noch einmal selbst zusammen, was Goethe ihr bedeutet:
»Mich hat er durch mein Leben begleitet und wenn auch andere Dichter […] stark auf mich wirkten, ich wäre auch mit Goethe allein ausgekommen. Denn ich fand ihn so umfassend, so das Wesentliche treffend, daß er mir immer war wie das starke, gute tägliche Brot, das man alle Tage essen kann, ohne es über zu bekommen«.
Es sind die Anschaulichkeit und Bildhaftigkeit von Goethes künstlerischer Haltung, die Käthe Kollwitz anziehen, seine unmittelbare Wirkung auf das Gemüt, ein verfeinerter Sinn für das Wesentliche und schließlich die unerschöpfliche, umfassende Vielfalt seines Denkens und Fühlens, die sich in allen Lebenssituationen bewährt.
Die ungekürzte Fassung des Aufsatzes »›Immer Goethe‹. Käthe Kollwitz trifft Johann Wolfgang von Goethe« erscheint im Jahrbuch 2018 der Goethe-Gesellschaft in Weimar e.V.