August Wegner: Charlotte von Stein, Stahlstich nach Georg Wolf ©Klassik Stiftung Weimar

Georg Friedrich Schmoll: Johann Wolfgang von Goethe, 1774/75, Kupferstich © Klassik Stiftung Weimar

Goethes frühester Brief an Charlotte von Stein, 7. Januar 1776 ©Klassik Stiftung Weimar

Goethe: Höhle am Hermannstein, Bleistiftzeichnung, Tuschlavierung ©Klassik Stiftung Weimar

Goethe: Stützerbacher Grund, Bleistiftzeichnung, Tuschlavierung ©Klassik Stiftung Weimar

Goethe an Charlotte von Stein, 7. Juni 1776 ©Klassik Stiftung Weimar

Goethes frühe Briefe an Charlotte von Stein neu ediert

Die Korrespondenz mit Charlotte von Stein nimmt in Goethes Briefwerk von ihrem Umfang her und in ihrer Intensität eine Sonderstellung ein. An keine andere Person hat er jemals häufiger und – zumindest für die Zeit bis zum Ende der italienischen Reise im Juni 1788 – in dichterer Folge geschrieben. Insgesamt sind mehr als 1770 Briefe Goethes an Charlotte von Stein (1742–1827) überliefert, etwa 1600 davon stammen aus dem ersten Weimarer Jahrzehnt von 1776 bis September 1786.

Sie gehören zu den schönsten, aber auch ungewöhnlichsten Liebesbriefen der Weltliteratur.

Noch immer geben sie Rätsel auf, nicht zuletzt weil die Gegenbriefe aus der frühen Zeit nicht überliefert sind.

Im Rahmen der historisch-kritischen Gesamtausgabe der Goethe-Briefe, seit 2008 im Auftrag der Klassik Stiftung und des Goethe-und Schiller-Archivs herausgegeben, erscheinen auch Goethes Briefe an Charlotte von Stein in neuer Textgestalt, revidierter Chronologie und erstmals umfassend wissenschaftlich kommentiert. Nach den Bänden 6 und 7 mit den Briefen von 1785 bis zum Ende der italienischen Reise im Juni 1788 folgen nun im dritten Band die Briefe der ersten vier Weimarer Jahre von 1775/76 bis 1779.

»Billets Kranckheit«

Der wahrscheinlich früheste überlieferte Brief Goethes an Charlotte von Stein stammt vom 7. Januar 1776. Auffallend erscheint nicht nur der vertraute Ton, in dem Goethe an eine Frau schreibt, die er erst wenige Wochen zuvor kennengelernt hatte. Ebenso ungewöhnlich ist das Äußere des Briefes, der sämtliche Schreibkonventionen der Zeit unterläuft. Unzählige dieser kleinformatigen Briefblättchen sollte Goethe in den folgenden Monaten und Jahren an Charlotte von Stein schreiben. Dem Brief vom 7. Januar 1776 folgen im selben Monat noch 12 weitere Briefe. Ende Januar wird Goethe von einer wahren »Billets Kranckheit« befallen und schreibt täglich, zuweilen sogar mehrmals an einem Tag. Von den insgesamt 561 Briefen des Bandes sind nicht weniger als 346 Briefe an Charlotte von Stein gerichtet.

Goethes frühester Brief an Charlotte von Stein, 7. Januar 1776 ©Klassik Stiftung Weimar

Goethes frühester Brief an Charlotte von Stein, 7. Januar 1776 ©Klassik Stiftung Weimar

»Allerley Zeug«

Doch nicht allein mit Worten sucht Goethe die Adressatin an sich zu binden, auffallend oft werden mit den Briefen auch Geschenke übersandt. In welchem Sinne diese ›Gaben‹ zu verstehen sind, erklärt Goethe im Brief vom 13. März 1777:

»Verzeihen Sie dass ich schon wieder allerley Zeug schicke. Sie sehen daraus dass ich von der ältern Kirche bin, da man sich den Göttern ohne Gaben nicht zu nähern traute.«

Fast ein Drittel aller überlieferten Briefe der ersten vier Weimarer Jahre enthielt Beilagen. Häufig schickte Goethe Früchte und Gemüse aus seinem Garten, zeitweise lagen fast jedem Brief Blumen bei, außerdem Briefe, Zeichnungen und Manuskripte, so am 25. Mai 1777 »die Schreibereyen« seiner »ersten Jahre«, zuweilen auch Exemplare gerade erschienener Werke, wie »Stella«, »Erwin und Elmire« oder der Supplementband der Himburgischen Ausgabe von »J. W. Goethens Schriften«. Mehrmals erwägt Goethe, der Freundin seine Haare zu schicken. So vielfältig die Beilagen sein mögen, immer stehen sie mit Goethes Person in enger Verbindung, sind gleichsam ein Teil von ihm selbst. Zudem verlangen sie per se nach ähnlich persönlichen Gegengaben, die Charlotte offenbar bereitwillig und großzügig überschickte. Nicht nur Lebensmittel, wie das »Wurst Andencken«, für das sich Goethe im wahrscheinlich frühesten überlieferten Brief bedankt, auch Kleidung, Manuskripte und Zeichnungen erhält er von der Freundin.

»Zeichnen Sie brav«

Das Zeichnen ist eines der wiederkehrenden Themen der ersten vier Jahre, für Goethe Grundbedürfnis und Mittel der ›Weltaneignung‹. Sich darin zu üben, fordert er auch Charlotte immer wieder auf. »Zeichnen Sie brav«, schreibt er schon am 13. April 1776 und überschickt ihr am 24. Juni »allerley Zeichnungen vergangener Zeiten«. Während sich in diesem Fall Näheres nicht mehr ermitteln ließ, konnten viele der Zeichnungen, die Goethe mit seinen Briefen überschickte, identifiziert und dem Band als Faksimile beigegeben werden, darunter der ›Stützerbacher Grund‹ und die ›Höhle am Hermannstein‹, die Goethe am 6. August gemeinsam mit Charlotte von Stein besucht hatte. Verhinderte die Witterung das Skizzieren und Zeichnen im Freien, freute Goethe »ein einzig Gefühl«, nämlich dass er »künftigen Sommer viel für Sie [Charlotte] zeichnen werde« (Brief vom 8. Januar 1777).

Ganz gleich, ob sich Goethe im Thüringer Wald, in der Umgebung von Weimar, auf der Wartburg, im Harz oder wie Ende 1779 auf der Reise in die Schweiz befindet, immer zeichnet er für die Freundin, die mit seinen Augen sehen soll, was er sieht, mehr noch, wie er es sieht.

Vice versa schickt Charlotte ihm gezeichnete Ansichten von ihren Reisen nach Pyrmont oder dem Landsitz in Kochberg.

 

Goethe: Stützerbacher Grund, Bleistiftzeichnung, Tuschlavierung ©Klassik Stiftung Weimar

Goethe: Stützerbacher Grund, Bleistiftzeichnung, Tuschlavierung ©Klassik Stiftung Weimar

Goethe: Höhle am Hermannstein, Bleistiftzeichnung, Tuschlavierung ©Klassik Stiftung Weimar

Goethe: Höhle am Hermannstein, Bleistiftzeichnung, Tuschlavierung ©Klassik Stiftung Weimar

»Wie kann ich seyn ohne Ihnen zu schreiben«

Schon bald nach dem Einsetzen seiner Korrespondenz mit Charlotte von Stein wurde der briefliche Austausch mit ihr zu einem Grundbedürfnis für Goethe. »Wie kann ich seyn ohne Ihnen zu schreiben«, beginnt sein Brief vom 7. Juni 1776. Auch wenn er nicht müde wird, seine ›Liebe‹ immer aufs Neue zu gestehen, ist die Thematik der Briefe doch weitaus umfassender als es die Gattung des ›Liebes-Briefes‹ erwarten lässt. Themen sind häusliche und familiäre Angelegenheiten ebenso wie gemeinsame Lektüre, botanische und mineralogische Interessen, die Mitwirkung am Liebhabertheater und an der Umgestaltung der Parkanlagen am Ilmufer, Goethes literarische Arbeiten oder die amtliche Tätigkeit, die vor allem in Briefen Erwähnung findet, die auf den Reisen durch die verschiedenen Teile des Herzogtums geschrieben wurden.

Goethes Briefe an Charlotte von Stein berühren von Anfang an nahezu alle Lebens- und Schaffensbereiche und vermitteln einen Eindruck von der Komplexität seiner Beziehung zur Adressatin. Die Briefe belegen, dass Charlotte von Stein ab 1776 zur wichtigsten Bezugsperson Goethes und gleichsam zu seiner ›Mentorin‹ wurde, wenn auch in einem weit umfassenderen Sinn und für einen ungleich längeren Zeitraum als alle ihre Vorgänger.

Goethe an Charlotte von Stein, 7. Juni 1776 ©Klassik Stiftung Weimar

Goethe an Charlotte von Stein, 7. Juni 1776 ©Klassik Stiftung Weimar

Die vor allem mit Hilfe der Briefe imaginierte ›Allgegenwart‹ der Adressatin wirkte als Inspiration und Antrieb für Goethes künstlerisches Schaffen. Umgekehrt wurde auch Charlotte von Stein durch ihre Freundschaft mit dem Dichter, Zeichner, Universalgelehrten und hohen Weimarer Staatsbeamten in vielfältiger Weise beeinflusst und gefördert, zur Beschäftigung mit Kunst und Literatur sowie den verschiedensten Wissensgebieten angeregt.