Goethe als Zeichner

Vor allem auf Reisen hat der Dichter mit Begeisterung gezeichnet – und sich künstlerisch immer weiterentwickelt.

Erstaunlich umfangreich ist das zeichnerische Oeuvre Johann Wolfgang von Goethes. Rund 2600 Werke haben sich erhalten – davon befinden sich mehr als 2000 in der Klassik Stiftung. Allein diese stattliche Anzahl lässt zaudern, in Goethe einen zeichnerischen Dilettanten im gängigen Sinne zu sehen. Tatsächlich wurde er, ohne dass er eine systematisch-akademische Ausbildung erfahren hätte, von zahlreichen bedeutenden Künstlern seiner Epoche meist im privaten – damit aber auch privilegierten – Rahmen geschult. Goethe selbst sah sich nie als Zeichner, dessen Ausbildung abgeschlossen war. Man kann von einem fast lebenslangen prozesshaften Studium sprechen, mit Phasen von unterschiedlicher Intensität.

Ersten Unterricht genießt Goethe im Frankfurter Elternhaus beim Zeichenmeister Johann Michael Eben. Über den Vater Johann Caspar Goethe, der zeitgenössische Gemälde sammelt, lernt der Sohn früh bedeutende regionale Künstler und ihre Ateliers kennen. Während des Jurastudiums in Leipzig bildet ihn dann der dortige Akademiedirektor Adam Friedrich Oeser gewissermaßen im Nebenstudium weiter und in Weimar wird der Leiter der neugegründeten »Fürstlichen freyen Zeichenschule«, Georg Melchior Kraus, ein zuverlässiger Freund bei zeichnerischen Übungen.

Johann Wolfgang von Goethe, »Tempelruine«, um 1820, Graphit und Aquarell

Johann Wolfgang von Goethe, »Tempelruine«, um 1820, Graphit und Aquarell, Klassik Stiftung Weimar

Inspirierende Impulse bringt Goethes erste Reise in die Schweiz, kurz vor der Übersiedlung nach Weimar. In »Werthertracht« und gemäß der Stimmungswelt des »Sturm und Drang« möchte er mit Freunden die Wildheit und Fremdheit der Schweizer Landschaft erleben. Wasserfälle, Felsen und Schluchten, Berglandschaften wie der berühmte »Scheideblick vom St. Gotthard nach Italien« mit ihrem weiten Sichtradius über das Hochgebirge, Erhabenheit, das Gefühl von Grenzenlosigkeit und ungebrochener Natur sind die beherrschenden Themen der Reisebilder.

Johann Wolfgang von Goethe, »Scheideblick nach Italien von Sankt-Gotthard«, 1775, Bleistift, Pinsel in Grau

Johann Wolfgang von Goethe, »Scheideblick nach Italien von Sankt-Gotthard«, 1775, Bleistift, Pinsel in Grau, Klassik Stiftung Weimar

Mit dem Aufbruch nach Italien beginnt für Goethe der bedeutendste Abschnitt seiner Weiterentwicklung als Zeichner. Zu seiner Zeit gilt ein Studium in Italien als Voraussetzung für eine erstklassige künstlerische Ausbildung. Als episodischer Schüler professioneller Kollegen wie Johann Heinrich Wilhelm Tischbein, Angelika Kauffmann und Jacob Philipp Hackert hat er auch Lernmöglichkeiten – nicht im Sinne akademischer Zeichenstunden, aber für die Praxis fruchtbar. Den größten Einfluss hat Hackert mit dem »Zeichnen nach der Natur«.

Goethe fühlt sich in Italien als bildender Künstler, wie seine gewählten Pseudonyme »pittore Filippo Miller« und »Maler Müller« signalisieren. So versteckt er seine Tätigkeiten als Dichter und Staatsmann – sicherlich nicht ganz ohne Koketterie. Doch schöpft er auch in seiner Weiterbildung zum Zeichner große Hoffnungen. Durch das Studium so vieler Hauptwerke der europäischen Kunstgeschichte kann Goethe seine Qualitätsbegriffe erweitern und vertiefen. An Charlotte von Stein schreibt er:

»Rom ist der einzige Ort in der Welt für den Künstler und ich bin doch einmal nichts anders.«

Tischbein berichtet:

»Goethe bleibt auch noch hier; der ist ein halber Maler geworden; ich höre, daß er in Rom fleißig zeichnet, Köpfe und Landschaften…«

Trotz seines vordringlichen Interesses an der Landschaft arbeitet Goethe parallel an einer anderen Herausforderung. Studien zur Anatomie und Proportion menschlicher Figuren entstehen vor dem Hintergrund der anatomischen Standards von Renaissance und Antike, die ihm in Italien permanent begegnen. Hier sieht er für sich einen enormen artistischen Nachholbedarf. Gleichzeitig sieht er die antiken Figuren als die eigentlich rechtmäßigen Bewohner mediterraner Landschaften, als ideale Staffage.

Johann Wolfgang von Goethe, »Neapolitanische Küste am Posillipo«, 1808, Feder und Aquarell

Johann Wolfgang von Goethe, »Neapolitanische Küste am Posillipo«, 1808, Feder und Aquarell, Klassik Stiftung Weimar

Gerade in koloristischer Hinsicht möchte Goethe in Italien Fortschritte erzielen. An Herzog Carl August schreibt er:

»Jetzt habe ich etwas vor, daran ich viel lerne; ich habe eine Landschaft erfunden und gezeichnet, die ein geschickter Künstler, Dies, in meiner Gegenwart colorirt.«

Aufschlussreich ist diese Äußerung nicht nur als ein Zeugnis der Zusammenarbeit mit Albert Christoph Dies, sondern auch als Einblick in den Arbeitsprozess: Dass Goethe eine Landschaft »erfunden und gezeichnet« hat, weist darauf hin, dass die Studien nach der Natur Voraussetzungen bilden, um »ideale« Landschaften zu komponieren. Goethes bildnerisches Ideal ist das einer schöpferischen Abstraktion – nie soll es letztlich um Deskription und Kleinteiligkeit gehen. Goethes Landschaften sind durchaus auch Seelenlandschaften, Resonanzböden differenzierter Stimmungen. In Italien entstehen weiträumige, souverän komponierte Panoramablicke. Für Sizilien notiert Goethe:

»Man sah keine Natur mehr, sondern nur Bilder.«

Johann Wolfgang von Goethe, »Sizilianische Landschaft«, 1808, Graphit und Feder, Aquarell

Johann Wolfgang von Goethe, »Sizilianische Landschaft«, 1808, Graphit und Feder, Aquarell, Klassik Stiftung Weimar

Die zeichnerische Produktion der nachitalienischen Zeit hat viele Facetten. Die böhmischen Landschaften sind Ergebnisse wiederholter Bäderreisen nach Karlsbad, Teplitz und Marienbad, die eine mondäne Erweiterung des thüringischen Horizontes bieten. Interessant ist, wie bei einzelnen böhmischen Landschaften Goethes genaue Kenntnis der Zeichenkunst von Caspar David Friedrich aufscheint.

Trotz seiner Vorbehalte gegenüber romantischen Extremen ist auch die virtuose Romantik der »Faust«-Illustrationen von Eugène Delacroix für Goethe inspirierend. In Goethes eigenen Zeichnungen zum »Faust« findet man impulsiv und frei komponierte Szenen, die formal zu seinen qualitätsvollsten zeichnerischen Leistungen gehören: die eklatante, gestisch inszenierte »Erscheinung des Erdgeistes«, die gespenstische »Beschwörung des Pudels« und die »Walpurgisnacht« mit ihren atmosphärisch kühnen Lavierungen. Bei dieser kleinen Werkgruppe verdichten sich die Kompositionen zu einer autonomen Bilddramatik.

Johann Wolfgang von Goethe, »Erscheinung des Erdgeistes«, 1810-12, Bleistift

Johann Wolfgang von Goethe, »Erscheinung des Erdgeistes«, 1810-12, Bleistift, Klassik Stiftung Weimar

Gebildete Dilettanten, die eine Ausbildung aufzuweisen haben, die über das Dilettantische teils weit hinausweist, hinterlassen häufig ein Oeuvre, das von starken qualitativen Diskrepanzen charakterisiert ist. Persönliche Genialität und begrenzte formale Gestaltungsmöglichkeiten können in glücklichen Einzelfällen erstaunliche Resultate erzielen, die aus dem Werk herausstechen.

Goethes Weimarer Freund Friedrich Wilhelm Riemer hat den Zeichner gewürdigt – die Einschätzung dieses Zeitgenossen kann nach wie vor als Basis einer Gesamtwürdigung dienen:

»Daß Goethe von Jugend auf sich in der bildenden Kunst versuchte und namentlich den Sinn für Landschaft durch eigene Proben betätigte, sagt er selbst an mehrern Orten seiner Lebensbeschreibung; aber auch, daß seine eigentliche Anlage nicht auf die bildende Kunst gegangen, sondern daß er in der Beschäftigung damit nur eine Art Befriedigung seiner Sehnsucht gefunden habe […]. Bei unvollkommener, nicht routinierter Technik war doch alles was er machte […] ausgezeichnet durch etwas, was man Stil nennen könnte, durch großartige Auffassung des Wesentlichen […]; man konnte es mit seinen eigenen Worten ›den Geist des Wirklichen‹ nennen.«

Bis zum 19. August 2018 sind zahlreiche Zeichnungen Goethes in unserer Kooperations-Ausstellung »Goethe & Chateaubriand. Regards croisés devant les paysages« im Maison de Chateaubriand bei Paris zu sehen.

Zur Ausstellung »Goethe & Chateaubriand«

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