Goethe. Illustration © Lydia Keßner

Geheimratsecken: Er ist wieder da

Johann Wolfgang von Goethe – Malte Herwig lässt Goethe in seiner monatlichen Kolumne auferstehen. Warum er wieder da ist und was er uns zu sagen hat. 

1. Januar. Weimar. Gestern Abend erwachte ich mit dem Glockenschlage sechs jäh nach längstem Schlafe im Sessel. Beim Niedersetzen hatte ich mich nicht wohl befunden, aber das mochte an der Kanne Burgunder liegen, die ich zu Mittag geleert hatte. Will die Flasche aufbewahren und eine Weinkorkensammlung anlegen, um die Phänomene gründlich studieren zu können.

Draußen war es stockfinster. Sogleich blickte ich mich um nach Ottilien, die mir vor dem Einschlafen die Hand massiert hatte. Aber sie war fort und hatte augenscheinlich auch vergessen, die Stube zu heizen. Das liebe Frauenzimmerchen … Für meinen späten »Faust« zeigt sie mehr Verständnis als die meisten Männer am Hofe, aber zur praktische Hausarbeit besitzt sie keinerlei Talent! Zudem hatte sie das Licht gelöscht, und ich musste mich im Dunkeln durch die kalten Räume tasten.

Der Weg ins Arbeitszimmer war mir durch ein schmiedeeisernes Gitter versperrt. Werde ich alt? Ich kann mich nicht erinnern, diese bauliche Veränderung in Auftrag gegeben zu haben. Auf weitere Überraschungen gefasst, suchte ich den Weg ins Vorderhaus, als ich plötzlich Geräusche vernahm. Behutsam schlich ich mich näher und lauschte. Aus dem Zimmer, in dem ich meine geliebten Majoliken ausstellte, drang Sirenengesang in einer mir fremden Sprache.

Vorsichtig lugte ich um die Ecke und bemerkte eine Dame, die sich der Betrachtung meiner kostbaren Keramiken widmete. Sie trug einen einfachen Kittel und grobes Schuhzeug. In der linken Hand hielt sie die Gipsbüste der Anna Amalia, in der rechten ein Zepter aus Pfauenfedern, mit dem sie kreisende Bewegungen vollzog. Sie sang schief, aber die weichen Worte ihres Lieds schienen mir ihren Ursprung im Slawischen zu haben.

Wer anderes als die Großherzogin Maria Pawlowna würde es wagen, unangemeldet bei mir zu erscheinen und arglos-heiter in meinen Sammlungen zu stöbern?

Freudig schritt ich mich erhobenen Armen auf sie zu:

»Serenissima! Seid mir willkommen.«

Doch statt meinen Gruß zu erwidern, stieß ihre Hoheit einen hellen Schrei aus und ließ die kostbare Skulptur fallen, auf dass sie in Tausend Stücke zersprang.

Nun ja, die Kosten werde ich mir aus der Staatskasse überweisen lassen. Doch muss ich gestehen, dass mir ihr Gebaren für eine Majestät kaum ziemlich dünkte. Auch schien sie mir vor der Zeit gealtert – fraglos die Folge der Regierungsgeschäfte, die auf zarten Frauenschultern doppelt schwer lasten.

Ich ergriff ihre schwielig-schwere Hand, um sie mit einem Kuss zu besänftigen.

»Hoheit, was verschafft mir zu so später Stunde die Ehre?«

»Ich putze Räume nach Museumsschluss.«

Sie deutete auf ihr Pfauenzepter. Irgendetwas schien hier nicht zu stimmen. Sicher, wir hatten unruhige, rebellische Zeiten erlebt. Man hatte Könige geköpft und die Landkarte Europas neu geordnet. Aber Weimar war von den Turbulenzen der Revolution bis zuletzt glücklich verschont geblieben – auch dank meines beständigen Wirkens in diese Richtung.

Handelte es sich um einen Scherz unserer Herrscherin, die sich als Magd herausgeputzt hatte, um mich des nachts zu überraschen? Wenn das der Großherzog wüsste! Ich beschloss, gute Miene zu ihrem Spiel zu machen.

»Wie nennt Ihr Euch also, gnädiges Fräulein? Wo kommt Ihr her?«

»Maria«, stotterte sie mit breitem slawischen Akzent. »Ich komme aus Polen«.

»Soso, ein Flüchtling aus dem zerteilten Land. Seid willkommen in meinem Haus und erzählt von Eurer Reise«.

Sie schaute mich noch immer an, als sei ich ein Gespenst. Ich aber zog sie kurz entschlossen ins Kaminzimmer und schob ihr behende einen Stuhl unter das erstaunlich pralle Gesäß. Da sie nun einmal hier war, hieß es, die Gunst der Stunde zu nutzen, zumal ich mich nach meinem langen Schlaf außerordentlich erquickt und frisch an Kräften fühlte.

Malte Herwig

Der Journalist, Schriftsteller und Literaturkritiker Malte Herwig schreibt für deutsche und internationale Medien, darunter die Frankfurter Allgemeine Zeitung, Süddeutsche Zeitung, Die Zeit, Welt, Deutschlandradio Kultur, Literaturen, Cicero und New York Times. Als Kulturredakteur des Spiegel machte er unter anderem mit einer Reportage zu Schillers Schädel auf sich aufmerksam.

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2 Kommentare

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    ‪Teilnahmebedingungen: http://www.klassik-stiftung.de/service/teilnahmebedingungen

    Peter Schützhold -
  • Gefällt mir,besonders der Schluß,frei nach den Motto:
    “Mütter,schließt eure Töchter weg,der Herr Geheimrat kommt vorbei”

    Rainer Benzinger -