Goethe, Schiller und die Weimarer Klassik
Geheimratsecken: Ich wär’ so gerne in Arkadien
Er ist wieder da und in Reisestimmung. Johann Wolfgang von Goethe über touristische Eigenarten und die »alte Hauptstadt der Welt«
Rom, im August 2015.
Endlich Urlaub! Irgendwann wurde mir die Zeit als geheimer Gast in meinem eigenen Hause doch lang. Nachts darf kein Licht sein und tagsüber trampeln die Besucher zu Hunderten über die Dielen, unter denen ich schlafen soll.
Maria wollte nach Malle. Aber der Strandkarneval, von dem sie schwärmte, ist nichts für einen alten Mann wie mich. Ich kenne meine Deutschen: Hier in der Heimat sind sie fleißig und höflich. Aber im Urlaub scheinen sie von jeder Tugend dispensiert. Kaum verlassen sie einmal ihre nordischen Gefilde und fahren gen Süden, so geraten sie gleich außer Rand und Band und veranstalten überall Walpurgis, als zahlte der Teufel die Zeche. Unter solchen Narren könnte ich nur mit Schmerzen einen Tag zubringen.
»Nein«, sagte ich, »es muss Italien sein!«
Wie lange war ich dort nicht mehr gewesen, wie gerne wollt ich wieder hin. Maria lenkte ein und half mir bei der Reisevorbereitung. Mit ein paar flinken Gesten auf ihrer Zaubertafel buchte sie unseren Transport und eine Herberge an der Via del Corso in Rom.
Ich packte meinen Dachsranzen mit dem Nötigsten: ein paar bequeme Hemden und Beinkleider, einen breitkrempigen Hut für die Sonne und leinene Unterstrümpfe, um nicht aufzufallen unter dem einfachen Volk. Maria hielt mich davon ab, noch Winckelmanns zweibändige »Geschichte der Kunst des Alterthums« und zwei Bouteillen Wein aus meinem Keller als Wegzehrung dazu zu legen. Den Wein würden sie mir ohnehin gleich am Hafen abnehmen, und die alten Bücher seien viel zu schwer.
»Du darfst nicht mehr als dreiundzwanzig Kilogramm mitnehmen«, erklärte sie mit unmissverständlicher Präzision, »ist halt eine Billig-Airline«.
Die Zahl schien mir recht willkürlich aus der Luft gegriffen, aber gut. Ich fand es ohnehin immer abscheulich, wenn Mannspersonen mit Bergen von Gepäck reisen, als wären sie Wöchnerinnen.
Um halb drei Uhr morgens gingen wir aus dem Haus – nicht, weil wir unerkannt bleiben mussten, sondern weil unser Luftschiff um fünf Uhr dreißig Segel setzen sollte. Am Flughafen musste ich mich einer Leibesvisitation unterziehen lassen, wie ich sie an keiner Zollstelle je erlebt hatte.
Überhaupt ist mir schleierhaft, warum die Menschheit jahrtausendelang vom Fliegen geträumt hat. Wir saßen in dem großen Blechvogel zusammengepfercht wie die Schweine im Tempel der Minerva vor der Schlachtung.
Mir wurden im Flug die Knochen durchgeschüttelt wie in der schlechtesten Postkutsche, und beim Anblick der zusammengefalteten Mahlzeit, die man uns mit generöser Geste über den Wolken servierte, überkam mich schwindelnde Übelkeit.
Zum Glück war die Fahrt kurz und wir kamen an, als wir kaum abgereist waren. Das Fliegen ist eine Tortur, aber eine erträgliche, wenn es schnell zum richtigen Ziel führt. Heute ist eben nicht mehr der Weg das Ziel. Heute reist man doch lieber, um anzukommen.
Nun genieße ich in Rom den völligsten Urlaub und denke an meine zurück: die kolossalen antiken Bauten, die wunderbaren Kunstwerke und Gärten.
In das neue lebendige Rom wollte ich erst gar nicht hineinsehen, um mir die Imagination nicht zu verderben.
Doch dann nahm mich Maria mit nach Trastevere, und ich überließ mich bereitwillig dem Gewimmel der Menschen in den Straßen und auf den Plätzen.
Gewiss: die Kunst ist ewig, und kurz ist unser Leben.
So scheint es mir jedenfalls hier, in der alten Hauptstadt der Welt. Tatsächlich haben sich die Römer in den Jahrhunderten genau so wenig gewandelt wie das Colosseum.
Und wie gefallen sie mir wieder, meine Italiener, dieses sinnliche Volk.
Es stimmt ja nicht, dass hier unter den Creaturen die Pferde die schönsten seien, wie Winckelmann lästerte. Wenn Maria nicht so scharf auf mich aufpassen würde, sähe ich den Römerinnen noch viel länger hinterher.
Sie halten viel aufs Reden und lachen den ganzen Tag lang. Gewiss, manchmal übertreiben sie es. Als ich heute über die Piazza del Popolo lief, verfolgte mich ein Händler und ließ nicht von mir ab, bis ich ihm einen Magneten mit dem Konterfei des Papstes abkaufte – des Papstes, ausgerechnet ich! Wenigstens scheint dieser Franziskus besser zu walten als Pius VI., der den Kirchenstaat so tief in den Kot gefahren hatte, dass selbst die Mönche nach dem Kaiser riefen.
Wie herrlich und frei ist diese Stadt heute. Keine Spur mehr von Malaria, und die Italiener kehren auch nicht mehr ihren Quark in jede Ecke. Maria hat ein Zweirad besorgt, das die Italiener Wespe nennen und mit dem wir über die Hügel und Plätze der Stadt sausen. Nur auf den alten Steinen der Via Appia Antica kamen wir nicht voran und ließen uns im kühlen Schatten einer Pinie nieder.
Hier draußen vor den Toren der ewigen Stadt scheint die Zeit tatsächlich stehen geblieben: Die Ruinen stehen wie damals auf blühenden Sommerwiesen, in den Baumkronen schreien indische Papageien und in der Ferne bellt ein Schäferhund.
»Arkadien!« seufzte ich glücklich und sah Maria an, die gerade ihren Freundinnen irgendwelche Botschaften auf der Zaubertafel schickte.
Sie tippte noch eine Weile auf ihrem Gerät, dann wandte sie mir ihr Gesicht zu und sagte entschuldigend: »Tut mir leid, aber Arkadien hat kein Reisebüro im Programm. In einer Woche fliegen wir zurück nach Weimar«.