Goethe, Schiller und die Weimarer Klassik · Kosmos Weimar
Rätsel um ein Brieffragment aus Goethes Handschriftensammlung
Fast wie ein historisches Ratespiel erschien die Recherche zu einem bislang unbekannten Brieffragment aus Goethes Autographensammlung. Das von einem unbekannten Schreiber verfasste und undatierte Blatt ist derzeit in der Ausstellung »Von Kant bis Unbekannt« im Goethe- und Schiller-Archiv zu sehen.
Nur das letzte Blatt des Briefes, der mit der Paraphe »L« schließt, ist überliefert. Der Schreiber scheint ein älterer, über mangelnde Gesundheit und trübe berufliche Perspektiven klagender, leitender Bibliothekar. Er wohnt in einem kleinen, »armseligen« Städtchen in der Nähe von Braunschweig, das durch Kriegsfolgen von emigrierten Franzosen stark frequentiert ist, die zu seinem Kummer vom Landesherrn protegiert werden und die ihm schwer zu schaffen machen.
Hinzu kommt eine in naher Zukunft drohende Verlegung der von ihm beoberaufsichtigten Bibliothek nach Braunschweig, was ihn stark beunruhigt und ihm eine ungewisse Zukunft verheißt. Er will den Frieden darum abwarten und den Rest seiner Tage anschließend andernorts verbringen.
Wo wohnt der Schreiber?
Er richtet ein Angebot an seinen Adressaten: aus Mangel an Platz in seinem Bücherschrank bietet er die 20-bändige italienische Literaturgeschichte des »unlängst« verstorbenen Autors Tiraboschi inklusive Registerband zum Kauf an. Der Adressat ist ebenfalls in der Bibliotheksbranche tätig und nicht minder gesundheitlich angeschlagen. Er wohnt in einer als »Musensitz« bezeichneten preußischen Stadt, in der einer der Prinzen des Landesherrn des Briefschreibers »L.« seinen Militärdienst ableistet.
Auch der Adressat gehört den gebildeten Kreisen an, ist an einer akademischen Bibliothek tätig und hat sich durch einschlägige fachspezifische Veröffentlichungen die Hochachtung des Briefschreibers »L.« erworben. Beide müssen einander gut kennen, dafür spricht der saloppe Briefstil.
In welcher Stadt wohnt der Briefempfänger? Und wie heißen nun die Unbekannten?
Nur scheinbar nebensächliche Details des Briefes führen auf die richtige Spur:
» … läufig, eh’ ichs vergesse, folgende Anfrage:
Tiraboschi ist, wie Sie wissen, unlängst [1] den Weg aller Compilatoren gegangen, und seine weitschichtiges Werk über Italiens Literarhistorie, wird wahrscheinlicher Weise so bald nicht wieder aufgelegt werden. Es besteht aus vielleicht 20 Quartbänden; denn da der Plunder noch nicht gebunden ist, hab’ ich seine Bestandtheile nicht zählen mögen. Vor kurzem erst, ist der hochnöthige Registerband [2] mir erst aus Modena geschickt worden; das Werk also complett und nach der neuesten von T. sehr vermehrten Ausgabe. Bei allen seinen Fehlern, kann der Literator es nicht entbehren; und wenn ich dennoch keine Lust habe es binden zu lassen, so kommt solches bloß daher, weil mein Schicksal ungewisser als jemahls ist, und ich der Bücher schon mehr als zuviel habe. Finden Sie das Opusculum über lang oder Kurz /: denn es hat damit gar keine Eil:/ für Ihre akademische Bibliothek schicklich: so erkundigen Sie sich indeß selber nach dem Ladenpreise, und bieten mir, wie ihre Finanzen es erlauben.
Da auf Bibliotheken die Rede fällt, muß ich doch sagen, daß die Aufsicht der hiesigen [3] immer mehr erschwert wird; und da in dem kleinen Lande [4] alles voll großer Projecte ist, Elmana [5] nunmehr gar nach Brschwg verpflanzt werden soll! [6] Da aus einer dergleichen Nachbarschaft der Scherereien nun noch mehr entstehen müssen, so wart’ ich nur auf Frieden [7], und die erste beste Gelegenheit, um den Rest meiner Tage in irgendeinem andern Winkel Deutschlands zu beschließen. Und bis dahin Geduld!
Wie aber sieht es mit Ihrer Gesundheit aus? an der ich so herzlichen Antheil nehme. Die meinige taugt ebenfalls nicht viel; und kann in so morastiger Gegend, wie die hiesige, unmöglich zu Kräften kommen. Durch Mäßigkeit, fleissige Bewegung, und abwechselnde Geistesbeschäftigung, weiß ich mir indeß erträglicher zu machen,
was einmahl nicht zu ändern ist. Vom Leben selbst hab’ ich so viel genossen, daß ich längst schon in der Fassung bin, ut conviva fatur aufstehen zu können.- Seit Jahr und Tag setzt eine Menge heilloser Franzosen meine Geduld auf eine neue Probe. Wir haben in dem armseligen Städtchen itzt deren 120. Da der Landesherr [8] solche gewaltig protegiert [9], so urtheilen Sie, was ich für Noth habe, mich der unbequemen Gäste zu erwehren!
Einer unsrer Prinzen [10] liegt ja auf Ihrem Musensitz [11] Sitzt in Garnison. Was macht der Knabe Absalom? Weiß er von seiner gegenwärtigen Lage Nutzen zu ziehn?
Macht Ihnen das Lesen meines Gewäsches weniger Vergnügen, als mir sein Schreiben verschafft hat, so bleibt Ihnen wenigstens der Vortheil, solches getrost unbeantwortet lassen zu können.
Meine Hochachtung wird immer die nähmliche seyn; und für hinlänglich entschädigt werde ich mich halten, wenn Sie mich unter diejenigen rechnen, die aus Ihren gedruckten Erzeugnissen sich zu belehren wissen, und also der Belehrung nicht unwerth sind. Daß der Trost: nützlich zu seyn, noch lange Ihr Loos bleiben, und Sie immer von neuem aufmuntern möge, ist der aufrichtige Wunsch, Ihres ergebensten,
L.«
Als einer der in die Verlegungspläne involvierten, leitenden Bibliothekare wäre zeitlich auch der in Helmstedt tätig gewesene Paul Jacob Bruns (1743 – 1814) in Frage gekommen, doch das »L« weist eindeutig auf Ernst Theodor Langer (1743 – 1820) als Briefschreiber.
Ein Schriftvergleich mit Autographen Langers im Bestand der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel bestätigt die Annahme. Langer trat 1781 die Amtsnachfolge Lessings in der Oberaufsicht über die Wolfenbütteler Bibliothek an und führt das Amt bis 1820.
Von 1787 bis 1788 begleitete Langer als Prinzenerzieher den Prinzen Friedrich Wilhelm nach Lausanne. Er war »ein guter Verwalter der Bibliothek und verfügte über ausgezeichnete bibliographische Kenntnisse. Er hat die Handschriftengruppe der Extravagantes gebildet und in drei Bänden verzeichnet … »L.« hat sich intensiv als Rezensent vor allem in Nicolais »Allgemeiner Deutschen Bibliothek« betätigt, im übrigen jedoch kein wiss. Oeuvre hiterlassen.« [12]
Und wem machte Langer nun das Angebot?
Goethe wäre nicht völlig ausgeschlossen, denn er war mit Langer seit seiner Leipziger Studienzeit bekannt und stand mit ihm zwischen 1768 und 1774 in freundschaftlichem Briefverkehr. Am 17. September 1769 schrieb er ihm ins Stammbuch: »In Götterlust kann einen Durst nicht schwächen, den nur die Quelle stillt.« So spottete Wieland und so fühlt im ganzen Herzen Ihr Freund Goethe.
Bis heute sind nach 1774 keine weiteren Kontakte zwischen Goethe und Langer nachweisbar. Lediglich in »Dichtung und Wahrheit« erinnerte sich Goethe seiner als »Gelehrten und vorzüglichen Bücherkenner.«
Die Ermittlung von Halle/Saale als preußische Garnisonsstadt und Musensitz mit akademischer Bibliothek lenkte den Blick auf Christian Wilhelm Friedrich August Wolf (1759 – 1824), der als zweiter Bibliothekar der Halleschen Universitätsbibliothek und von 1802 bis 1808 als deren Leiter manchen Bücherankauf durch Langer vermittelt bekommen hatte, wie aus mehreren Briefen Wolfs an Langer hervorgeht. Auch liehen sie einander zu Forschungszwecken häufig Fachliteratur aus ihrem jeweiligen Bibliotheksbestand und tauschten sich in ihren Briefen darüber aus. [13]
Wolf war seit 1795 auch mit Goethe bekannt und korrespondierte mit ihm. Wolf sandte ihm mehrfach Briefe verschiedener Schreiber und Empfänger zur Erweiterung von Goethes Autographensammlung.
Für die kollegiale Hilfe und das gemeinsame Grübeln sei Dr. Hartmut Beyer und Dr. Christian Heitzmann von der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel sowie Sabine Schäfer, Weimar, herzlich gedankt.