Goethe bekämpft seine Trauer um Carl August mit einer Flasche Dornburger Wein. © Lydia Keßner

Geheimratsecken: Diese Ernestiner!

Der November macht mich so melancholisch. Keine Spur mehr von des holden Himmels fruchtender Fülle oder was immer mir beim Erntedankdichten früher so hübsch durch Kopf und Feder schoss. Langsam wird’s mir auch kühl in meiner Kutschenbehausung, mit der ich immer noch vorlieb nehmen muss.

Maria meint, ich dürfe mich tagsüber noch immer nicht sehen lassen in meinem eigenen Hause! Die Weimarer seien für meine Rückkehr noch nicht bereit, es wäre ein Schock für sie, ihren Goethe nicht nur als Marmorbüste und Pfefferstreuer, sondern in Fleisch und Blut unter sich wandeln zu sehen.

Also machten wir einen Ausflug zu zweit ins alte Renaissanceschlösschen nach Dornburg.

Ich besichtigte die Bergstube mit dem herrlichen Saaleblick, in der ich 1828 eine Zeit lang gewohnt, und zeigte Maria die Kritzelei, mit der ich mich unter dem Eckfenster verewigt hatte:

1828 vom 7. Juli bis 12. September verweilte hier Goethe

»Warum schreibst du von dir in der dritten Person?«, fragte Maria und schien mehr amüsiert als verwundert über meine Marotte, mich immer und überall zu verewigen. »Wenn ich ›Ich‹ schriebe, woher sollen die Leute dann wissen, dass ich es bin, der hier war«, entgegnete ich nicht ohne Hintersinn.

Tatsächlich musste ich mit Befriedigung feststellen, dass ich mir die Mühe gar nicht hätte machen müssen. Wo immer ich zu Lebzeiten verweilte, und sei es noch so kurz, wird mein einstiger Aufenthalt heute durch Tafeln und Schilder annonciert: Hier wohnte Goethe, dort wohnte Goethe.

Hätte ich wirklich in allen Häusern übernachtet, an denen heute ein HwG-Schild hängt, ich müsste wahrlich 200 Jahre alt geworden sein!

Hier in Dornburg aber war ich tatsächlich gewesen, und man hatte meine Unterschrift später auf Befehl der Großfürstin Maria Pawlowna unter Glas und Rahmen gebracht.

Wehmütig dachte ich zurück an jene Wochen im Sommer 1828, als ich hier in Trauer um meinen lieben Herrn Carl August weilte, der kurz zuvor nicht nur von uns, sondern – so fühlte ich bei schmerzlichstem Zustand des Innern – von mir ganz persönlich gegangen war.

Unverwandt geriet ich ins Schwärmen und erzählte Maria von meiner langen Freundschaft zu Carl August von Sachsen-Weimar-Eisenach. Meine Majestät, erklärte ich und holte tief Luft für eine genealogische Ausführung, sei eine Zierde seines Geschlechts, der Ernestiner, gewesen, die vom sächsischen Kurfürsten Ernst abstammten und zusammen mit den Albertinern das Haus der Wettiner bildeten.

Letztere waren zwar die Geschickteren im Mächtespiel der deutschen Fürsten und schnappten ihren ernestinischen Verwandten 1547 gar die Kurwürde weg, nachdem diese allzu eifrig die reformatorischen Bestrebungen des Dr. Martin Luther unterstützt hatten.

Aber auf meine Ernestiner wolle ich nichts kommen lassen.

Vielleicht war es gerade der Mangel an weltlicher Macht, der den Ehrgeiz ernestinischer Fürsten auf das Gebiet von Kunst und Wissenschaft lenkte – wo er sich zweifellos fruchtbarer für die Menschheit auswirkte als in Kriegs- und Beutezügen. Ohnehin errangen die Ernestiner durch kluge Heiratspolitik im Ehebett mehr Einfluss als mancher Fürst im Felde.

»Dein Freund Carl August soll drei Dutzend uneheliche Kinder gezeugt haben, und du redest von Ehepolitik!«, entrüstete sich Maria und brachte mich in einige Verlegenheit. Was wusste sie schon von der Leichtigkeit des Lebens am Musenhof, der Freiheit des Salons, hinter dessen Tapetentüren so manches Satyrspiel stattfand.

»Davon wollen wir schweigen«, bellte ich etwas zu ungehalten.

Mein Freund Carl August war eine Hoheit des Herzens gewesen, ja, aber auch ein aufgeklärter und kunstsinniger Herrscher, der es verstanden hatte, sich mit den richtigen Beratern zu umgeben.

»Schleimer!«, lästerte Maria. »Er hat sich ja vor allem mit dir umgeben.«

»Gewiss«, erwiderte ich, und vergaß für einen Moment Wieland, Herder und die anderen Musenhöflinge von Weimar. »Wer sonst hätte ihn auf so vielen unterschiedlichen Gebieten beraten können?«

Nein, meine Majestät hatte mich nicht umsonst zum geheimen Rat gemacht und auch in den Adelsstand erhoben. Wer sonst hätte sich meine ellenlangen Abhandlungen über Tierknochen und Erzklumpen durchgelesen, wenn nicht Carl August in seiner gelangweilten Gnade? Noch kurz vor seinem Tod hatte ihre Hoheit in Erfurt einen fußkranken Straußenvogel gekauft und mir den Auftrag erteilt, das kuriose Tier schlachten zu lassen.

Im Nachhinein scheint es mir wie eine Vorahnung, dass ich im letzten Brief an meinen Großherzog ausgerechnet über Gerippe und Eingeweide sinnierte, wenn auch die eines Vogels.

»Memento mori, memento mori«, seufzte ich und griff nach einer Flasche Dornburger Wein, um meine Trauer einzulullen.

»Du warst sicher ein guter Berater«, sagte Maria und strich mir beruhigend über die Schulter. »Aber manchmal glaube ich, du hast wirklich einen Vogel.«

Malte Herwig

Der Journalist, Schriftsteller und Literaturkritiker Malte Herwig schreibt für deutsche und internationale Medien, darunter die Frankfurter Allgemeine Zeitung, Süddeutsche Zeitung, Die Zeit, Welt, Deutschlandradio Kultur, Literaturen, Cicero und New York Times. Als Kulturredakteur des Spiegel machte er unter anderem mit einer Reportage zu Schillers Schädel auf sich aufmerksam. Seit Januar erscheinen seine Geheimratsecken auf dem Blog der Klassik Stiftung.

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