Rüdiger Haufe und Sebastian Schlegel betrachten ein Buch aus der Bibliothek Hermann Türcks. Noch befindet es sich im Tiefenmagazin der Herzogin Anna Amalia Bibliothek. Obwohl die Historiker viel über Hermann Türck und seine Tochter Susanne herausgefunden haben, konnten bislang keine rechtmäßigen Erben ermittelt werden. © Klassik Stiftung Weimar

Der Historiker Peter Prölß und die Juristin Jelena Wachowski im Tiefenmagazin der Herzogin Anna Amalia Bibliothek: Hier werden unter anderem die bestätigten Verdachtsfälle von NS-Raubgut aufbewahrt. © Klassik Stiftung Weimar

Ausschnitt aus dem Inventar von 1939 in dem 19 Blätter mit Zeichnungen von Christoph Heinrich Kniep als Geschenk von Heinrich Mayer an die Goethe-Gesellschaft und das Goethe-Nationalmuseum verzeichnet wurden. © Klassik Stiftung Weimar

Sebastian Schlegel zeigt das Exlibris von Dr. Hermann Türck. Im Herbst 1933 erwarb die Thüringische Landesbibliothek über ein Antiquariat 83 Bände aus seiner wissenschaftlichen Bibliothek. © Klassik Stiftung Weimar

Bei den Büchern des Weimarer Privatgelehrten und Goethe-Experten Dr. Hermann Türck handelt es sich fast ausschließlich um Literatur zu Goethes Leben und Werk, insbesondere zum »Faust«-Drama. © Klassik Stiftung Weimar

Das Exlibris Leopold Scheyers aus dem in Weimar aufgetauchten Buch »Mit Schiller durch das Jahr«. Der Historiker Peter Prölß kannte es bereits aus einem anderen Forschungsprojekt und konnte so Scheyers ehemalige Adresse herausfinden. © Klassik Stiftung Weimar

Die Biografie hinter dem Objekt

Oft sind es unscheinbare Hinweise, mit denen die Provenienzforschung beginnt: Ein Exlibris, ein Stempel, eine verblasste Signatur. Aus diesen Mosaikstücken formt sich ein immer detaillierter werdendes Bild – ein Name, eine Biografie, ein Verfolgungsschicksal. Zwischen Verdacht und Gewissheit liegen Unmengen an Akten, durch die sich die »Wühlmäuse«, wie Rüdiger Haufe seine Historiker-Kollegen und sich scherzhaft bezeichnet, arbeiten müssen.

Das Geschenk Heinrich Mayers ist so ein Fall: Beim Durchsuchen der Geschäftspost des Goethe-Nationalmuseums aus dem Jahr 1939 entdeckt Rüdiger Haufe einen knapp gefassten Brief, in dem Mayer der Goethe-Gesellschaft 19 Blätter mit Kniep-Zeichnungen als Geschenk anbietet, wenn diese in den bleibenden Besitz übergehen.

Der Zeichner Christoph Heinrich Kniep begleitete Goethe im Jahr 1787 auf dessen Reise durch Italien.

Gern übernehme das Goethe-Nationalmuseum die Aufbewahrung, steht in der ebenfalls erhaltenen Antwort. »Durch den Brief sind wir hellhörig geworden«, sagt Rüdiger Haufe. »Auch Geschenke sind nicht unverdächtig. Die jüdischen Deutschen standen zu dieser Zeit unter einem extrem hohen Verfolgungsdruck. Sie konnten oft nicht frei über ihr Eigentum verfügen.«

Ausschnitt aus dem Inventar von 1939 in dem 19 Blätter mit Zeichnungen von Christoph Heinrich Kniep als Geschenk von Heinrich Mayer an die Goethe-Gesellschaft und das Goethe-Nationalmuseum verzeichnet wurden. © Klassik Stiftung Weimar

Ausschnitt aus dem Inventar von 1939 in dem 19 Blätter mit Zeichnungen von Christoph Heinrich Kniep als Geschenk von Heinrich Mayer an die Goethe-Gesellschaft und das Goethe-Nationalmuseum verzeichnet wurden. © Klassik Stiftung Weimar

Nachdem die Untersuchung der Grafiken keine weiteren Hinweise ergibt, führt die Recherche zum Projekt Stolpersteine Hamburg, dessen Mitarbeiter die Biografie der Familie Mayer rekonstruiert haben. »Heinrich Mayer war in Hamburg als Kaufmann im Kaffee-Import-Geschäft tätig und hat alle Phasen der Verfolgung durch die Nationalsozialisten miterlebt«, sagt Rüdiger Haufe.

Langsam wandelt sich das Bild der Schenkung. Als Juden waren Heinrich Mayer und seine Frau Marie der ständigen Verfolgung ausgesetzt: Vermögensabgaben, Zwangsverkäufe, Abgabe des Schmucks und der Einzug des Bankguthabens sind im Bericht der Provenienz-Forscher aufgelistet.

Zum Zeitpunkt der Schenkung waren seine drei Kinder nach Südamerika und Neufundland emigriert, der 73-jährige Heinrich Mayer musste mit seiner Frau eine kleinere Wohnung beziehen. Die Flucht war ihnen nach Ausbruch des Krieges unmöglich geworden.

Bereits 1935 musste er die Goethe-Gesellschaft verlassen, deren langjähriges Mitglied er war. »Die Lebensumstände Heinrich Mayers und seiner Frau Marie waren zur Zeit der Schenkung massiv eingeschränkt. Wir gehen davon aus, dass er Vertrauen in die Goethe Gesellschaft hatte und die Zeichnungen dadurch retten wollte«, sagt Haufe.

Zum anfänglichen Verdacht kommt die traurige Gewissheit: Das Ehepaar wurde 1942 nach Theresienstadt deportiert, wo Heinrich Mayer wenige Monate später starb. Marie Mayer wurde 1944 in Auschwitz ermordet.

Sebastian Schlegel zeigt das Exlibris von Dr. Hermann Türck. Im Herbst 1933 erwarb die Thüringische Landesbibliothek über ein Antiquariat 83 Bände aus seiner wissenschaftlichen Bibliothek. © Klassik Stiftung Weimar

Sebastian Schlegel zeigt das Exlibris von Dr. Hermann Türck. Im Herbst 1933 erwarb die Thüringische Landesbibliothek über ein Antiquariat 83 Bände aus seiner wissenschaftlichen Bibliothek. © Klassik Stiftung Weimar

Auch wenn die ursprünglichen Besitzer identifiziert sind, gestaltet sich die Suche nach Nachfahren oft schwierig.

Im Herbst 1933 erwarb die Thüringische Landesbibliothek über ein Antiquariat 83 Bände aus der wissenschaftlichen Bibliothek des Weimarer Privatgelehrten und Goethe-Experten Dr. Hermann Türck, der im selben Jahr verstorben war.

Der Fall scheint klar: Die Provenienzforscher konnten in Archiven herausfinden, dass seine Tochter, die Studienassessorin Dr. Susanne Türck, Ende 1933 nach England emigrierte und sich wahrscheinlich gezwungen sah, den Nachlass ihrer Vaters zu veräußern.

Dafür spricht auch, dass sie in den 1950er Jahren ein Wiedergutmachungsverfahren angestrebt hat. Trotzdem konnte bislang kein Rechtsnachfolger ermittelt werden. »Wir müssen annehmen, dass die 1905 geborene Susanne Türck verstorben ist. Da sie bis in die Mitte der 1950er Jahre ihren Mädchennamen getragen hat, können wir auch nicht davon ausgehen, dass sie verheiratet war«, sagt Sebastian Schlegel.

Das Exlibris Leopold Scheyers aus dem in Weimar aufgetauchten Buch »Mit Schiller durch das Jahr«. Der Historiker Peter Prölß kannte es bereits aus einem anderen Forschungsprojekt und konnte so Scheyers ehemalige Adresse herausfinden. © Klassik Stiftung Weimar

Das Exlibris Leopold Scheyers aus dem in Weimar aufgetauchten Buch »Mit Schiller durch das Jahr«. Der Historiker Peter Prölß kannte es bereits aus einem anderen Forschungsprojekt und konnte so Scheyers ehemalige Adresse herausfinden. © Klassik Stiftung Weimar

Manchmal helfen Zufälle, wie beim Nachlass Leopold Scheyers, dessen Buch »Mit Schiller durch das Jahr« in Weimar auftauchte. »Das Exlibris Scheyers war mir bereits während eines anderen Forschungsprojekts begegnet«, sagt Peter Prölß.

Er fand den Adress-Stempel der Apotheke Scheyers in einem Buch der Berliner Zentral- und Landesbibliothek und rekonstruierte eine knappe Biographie: Als jüdischer Apotheker in Berlin faktisch seit 1936 mit einem Berufsverbot belegt, emigriert die Familie 1939 in die Niederlande. Doch auch dort ist das Ehepaar nicht sicher.

Als Anfang 1943 die Deportation droht, begeht Leopold Scheyer Selbstmord, seine Frau Nanny wird nach Sobibor verschleppt und stirbt dort zwei Jahre später. Nur die beiden nach Schweden geflohenen Töchter überleben.

Zunächst bleibt die Suche nach den Erben erfolglos, doch dann meldet sich eine Enkelin Scheyers: Im Internet habe sie sich über ihren Großvater informieren wollen und sei so zufällig auf die als NS-Raubgut katalogisierten Bücher gestoßen. Heute befinden sie sich wieder im Besitz der rechtmäßigen Erben.

Doch selbst wenn die Rechtsnachfolger ermittelt werden können, kommt es nicht immer zur Restitution, also der Rückgabe der Gegenstände.

Die Mehrzahl der Nachfahren freue sich, dass diese Ungerechtigkeit aufgearbeitet werde, manche reagierten auch zurückhaltend, sagt Jelena Wachowski. Es sei oft sehr belastend für die Angehörigen, die Geschichte ihrer Vorfahren zu erfahren. Auch die Ermittlung der Rechtsnachfolge kann Jahre dauern.

Beim Nachlass Heinrich Mayers ist das Team in Kontakt mit mehreren Nachfahren und versucht die Erbfolge zu rekonstruieren, damit die Kniep-Zeichnungen zurück in den Besitz der Familie kommen können. »Die Restitution ist immer das Ziel. Diese Gegenstände gehören nicht hier her. Sie können nicht identitätsstiftend für eine Institution sein«, sagt Jelena Wachowski. Vielleicht sei es ein kleiner Beitrag zu einer größeren Gerechtigkeit, fügt Rüdiger Haufe an. Vielleicht helfe es, die Mechanismen der Ausgrenzung besser zu verstehen.

Zum Forschungsprojekt »Provenienzen, Erwerbungskontexte, Erbenermittlung«