Der Fall Dr. Susanne Türck
Oft bestimmen die spektakulären Fälle die Berichterstattung über sogenanntes NS-Raubgut. Dadurch kann leicht der Eindruck entstehen, es handle sich bei »NS-verfolgungsbedingt entzogenem Kulturgut« hauptsächlich um wertvolle Kunstgegenstände. Aber auch Bücher, Möbel und andere Alltagsgegenstände wurden den durch das NS-Regime Verfolgten auf die unterschiedlichsten Weisen entzogen. In vielen Fällen profitierten deutsche Museen, Archive und Bibliotheken davon.
Trotz ihres geringen Marktwerts können diese Gegenstände für die möglichen Erben von außerordentlicher individueller Bedeutung sein, handelt es sich dabei doch mitunter um die einzige materielle Erinnerung an die im Nationalsozialismus verfolgten Familienmitglieder.
Im Zugangsbuch der Thüringischen Landesbibliothek finden die Provenienzforscher Hinweise, dass im November 1933 Bücher aus dem Nachlass von »Dr. Türck« angekauft wurden. Ein auffälliges Exlibris, eingeklebt in einige der erworbenen Bände, verweist auf Dr. Hermann Türck als Vorbesitzer.
Genug Hinweise für die Provenienzforscher, um die Geschichte der einstigen Eigentümer zu rekonstruieren: Hermann Türck, geboren 1856, lebte in Weimar. Der Literaturwissenschaftler forschte zu Goethe, insbesondere zu dessen »Faust«-Drama. Einen gewissen Bekanntheitsgrad erlangte Türck durch sein Buch »Der geniale Mensch« (1897), das in zahlreichen Auflagen erschien. Im Lauf der Jahre baute sich der Wissenschaftler eine private Bibliothek auf.
1929 kehrte seine im Jahr 1905 geborene Tochter Susanne Türck nach Abschluss ihres Studiums nach Weimar zurück, um für ihren erkrankten Vater zu sorgen. Die promovierte Anglistin bereitete sich darauf vor, Lehrerin zu werden und absolvierte den Vorbereitungsdienst für den höheren staatlichen Schuldienst.
Da es in Weimar jedoch keine freien Stellen an staatlichen Schulen gab, ließ sie sich beurlauben. Um den Lebensunterhalt für sich und ihren Vater zu finanzieren, arbeitete Susanne Türck ab 1931 an zwei privaten Schulen in Weimar.
Als Hermann Türck im April 1933 starb, erbte seine Tochter die Bibliothek. Im selben Monat erließen die Nationalsozialisten das »Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums«. Jüdische und politisch unerwünschte Beamte sollten von ihren Stellen entfernt und der öffentliche Dienst damit »gleichgeschaltet« werden.
Da sie sich im Wartestand des Thüringischen Volksbildungsministeriums befand, wurde Susanne Türck verpflichtet, einen Fragebogen mit Angaben zu sich und ihrer Familie auszufüllen. Hier erklärte sie, dass ihre Großeltern väterlicherseits beide jüdischer Herkunft waren. Ihr Vater Hermann Türck war zum Protestantismus konvertiert und auch Susanne Türcks Mutter war evangelisch. Im Zusammenhang mit einer Statusüberprüfung wurde später in ihrer Personalakte notiert: »Die Studienassessorin Frl. Dr. Susanne Türck ist nach ihren Angaben im Fragebogen vom 5. Juli 1933 Halbjüdin. Ihre Verwendung im Schuldienst kommt daher nicht in Frage«.
Zu diesem Zweitpunkt war Susanne Türck bereits nach Großbritannien emigriert. Die Bücher, die sie von ihrem Vater geerbt hatte, hatte sie zuvor verkauft – sehr wahrscheinlich, um ihre Flucht aus Deutschland im Oktober 1933 zu finanzieren. Die Thüringische Landesbibliothek, eine der Vorgängerinstitutionen der heutigen Herzogin Anna Amalia Bibliothek, erwarb die Bücher im Herbst 1933 über Ludwig Thelemanns Buch- und Kunsthandlung in Weimar.
Die Provenienzforscher der Klassik Stiftung sind zu der Einschätzung gelangt, dass es sich bei den in den Beständen der Anna Amalia Bibliothek bislang ermittelten 160 Bänden aus der Privatbibliothek Hermann Türcks um »NS-Raubgut« handelt. Susanne Türck verkaufte die Bücher, weil sie den Erlös für ihre Emigration benötigte, zu der sie sich aufgrund der 1933 einsetzenden Verfolgung gezwungen sah.
Doch die Suche nach rechtmäßigen Erben gestaltet sich schwierig: Unter der letzten bekannten Anschrift im englischen Newcastle upon Tyne führte Susanne Türck bis zu ihrem Tod 1976 ihren Mädchennamen. Es ist davon auszugehen, dass sie unverheiratet und vermutlich auch kinderlos geblieben ist. Derzeit dauern die Recherchen der Klassik Stiftung weiter an.
Die Mobile Vitrine mit dem Fall Susanne Türck ist bis Ende Januar 2017 im Foyer des Studienzentrum der Herzogin Anna Amalia Bibliothek zu sehen.
Zur Reihe »NS-Raubgut in der Klassik Stiftung Weimar«
In den Beständen der Klassik Stiftung Weimar befinden sich unrechtmäßig erworbene Kulturgüter. Seit 2010 sucht die Stiftung systematisch nach sogenanntem NS-Raubgut und strebt gemeinsam mit den Verfolgten oder deren Erben gerechte und faire Lösungen an. 2011 hat die Stiftung diese Aufgabe in ihr Leitbild aufgenommen.
In mehreren Fällen konnten als »NS-Raubgut« identifizierte Objekte an die Erben der einstigen Besitzer zurückgegeben werden. Seit November 2015 ist die Mobile Vitrine auf Wanderschaft durch die Foyers der Häuser und stellt besonders interessante Einzelfälle von NS-verfolgungsbedingt entzogenen Kulturgütern und die Verfolgungsschicksale der früheren Eigentümer vor.
Zu jedem Fall wird ein Blogbeitrag veröffentlicht.