»Sie ist ohne alle Prätension und Ziererei, gerad, natürlich, frei«
Charlotte von Stein ist die vielleicht bekannteste Unbekannte des klassischen Weimar. Ein Porträt von Elke Richter, eingelesen von Schauspielerin Heike Meyer.
Obwohl ihr mehrere Biographien gewidmet sind, wird sie doch noch immer meist nur im Bezug zu Goethes Leben und Werk wahrgenommen. Sie tritt auf als Goethes »Muse«, als personifiziertes »Bildungserlebnis« und Verkörperung der »schönen Seele«. Andererseits soll sie weltabgewandt, sinnenfeindlich, blutleer, oder gar prüde gewesen sein, eine Frau, die kalt und asketisch den Dichter an sich zu fesseln suchte, ihn maßregelte und quälte und ihn schließlich in die Flucht nach Italien trieb. Die überlieferten Quellen zu ihrer Person, darunter Briefe der Zeitgenossen, die sie aus persönlichem Umgang kannten, zeichnen ein anderes Bild:
Frau von Stein ist diejenige hier unter allen, von der ich am meisten Nahrung für mein Leben ziehe. […] Sie ist ohne alle Prätension und Ziererei, gerad, natürlich, frei, nicht zu schwer und nicht zu leicht, ohne Enthusiasmus und doch mit geistiger Wärme, nimmt an allem Vernünftigen Antheil und an allem Menschlichen, ist wohl unterrichtet und hat feinen Takt, selbst Geschicklichkeit für die Kunst.
So beschrieb sie Carl Ludwig von Knebel im April 1788 in einem Brief an seine Schwester Henriette.
»Vier Damen im Weimarer Park«
Charlotte Ernestine Bernardine von Stein wurde am 25. Dezember 1742 in Eisenach geboren, wo ihr Vater Johann Wilhelm Christian von Schardt in den Diensten Herzog Ernst Augusts I. von Sachsen-Weimar und Eisenach stand. Ihre Mutter Concordia Elisabeth, geb. Irving of Drum, entstammte einer seit dem 15. Jahrhundert in Deutschland ansässigen Familie mit schottischen Wurzeln. 1743 siedelte die Familie nach Weimar über.
Von den elf Kindern der Schardts blieben neben Charlotte nur die beiden jüngeren Schwestern Amalie und Louise sowie die jüngeren Brüder Carl und Ernst am Leben. 1758 wurde Charlotte von Schardt, gerade 16-jährig, eine der vier, in manchen Jahren auch nur drei »HofDamen« der regierenden Herzogin Anna Amalia.
Großen Einfluss auf die Entwicklung Charlottes scheint vor allem die Mutter genommen zu haben, eine ernste, tief religiöse und literarisch gebildete Frau, die wenig Wert auf Repräsentation und höfische Gesellschaft legte. Um die Aufwendungen für die aristokratische Lebensführung der Familie und die Erhaltung des großen Hauses in der Weimarer Scherfgasse zu decken, musste immer wieder auf das mütterliche Erbe zurückgegriffen werden, eigentlich für die Ausbildung der Söhne und als Mitgift der Töchter bestimmt.
Die Ehe der ältesten Tochter Charlotte mit dem herzoglichen Stallmeister und Kochberger Gutsherrn Josias von Stein war insofern nicht nur standesgemäß, sie versprach auch finanzielle Sicherheit. Mit ihrer Heirat am 8. Mai 1764 schied Charlotte von Stein aus dem Hofdienst aus. Dass sie immer wieder als »Hofdame« apostrophiert wird, beruht vermutlich auf einer schon im 19. Jahrhundert verbreiteten Verwechslung mit ihrer gleichnamigen Schwägerin.
»Man sollte den Weibern deßwegen viele andere Vorzüge des Lebens lassen«
Josias von Stein (1735–1793) wird von den Zeitgenossen als gut aussehender Mann, weltgewandter Kavalier, zuverlässiger Beamter, angenehmer Gesellschafter, guter Tänzer und hervorragender Reiter beschrieben. Er galt als gutherzig und aufrichtig, heiter und glaubensstark. Einen Großteil seiner Zeit verbrachte er auf dienstlichen Reisen, etwa um Pferde zu kaufen. Statt wissenschaftlicher oder künstlerischer Ambitionen besaß er eine Neigung fürs Praktische. Anders als seine Frau verkehrte er fast täglich bei Hof.
Trotz unterschiedlicher Lebensweisen und Interessen wusste Charlotte von Stein die guten Eigenschaften ihres Mannes zu schätzen, der »so artig« gegen sie war, dass sie »allen guten Frauen ein gleiches Betragen von ihren Männern« wünsche. Nach der Hochzeit bezog das Paar eine Stadtwohnung in der Kleinen Teichgasse am Kasseturm, der Umzug in das Haus an der Ackerwand erfolgte erst 1777.
Zum zweiten Wohnsitz der Familie, zumeist nur im Sommer und Herbst genutzt, wurde Schloss Kochberg. In den ersten zehn Ehejahren brachte Charlotte von Stein sieben Kinder zur Welt, vier Mädchen und drei Jungen, von denen nur die Söhne das Erwachsenenalter erlebten. Wie sie selbst die Zeit ihrer Schwangerschaften und rasch aufeinander folgenden Geburten erlebte, beschreibt sie 1796 in einem Brief an Charlotte Schiller:
Von Thränen ermüdet schlief ich nur ein und schleppte mich wieder beim Erwachen einen Tag, und schwer lag der Gedanke auf mir, warum die Natur ihr halbes Geschlecht zu dieser Pein bestimmt habe. Man sollte den Weibern deßwegen viele andere Vorzüge des Lebens lassen, aber auch darin hat man sie verkürzt, und man glaubt nicht, wie zu so viel tausend kleinen Geschäften des Lebens, die wir besorgen müssen, mehr Geisteskraft muß aufgewendet werden, die uns für nichts angerechnet wird, als die eines Genies, der Ehre und Ruhm einerntet.
»Obs unrecht ist was ich empfinde«
1775 lernte Charlotte von Stein den damals 26-jährigen Goethe kennen, zu dem sich schon bald eine ungewöhnlich enge Beziehung entwickelte, bis heute Anlass unzähliger Spekulationen. Bis zum Antritt seiner italienischen Reise im September 1786 schrieb Goethe der Freundin mehr als 1.600 Briefe. Auf das Werben um Liebe und Vertrauen des jungen Dichters reagierte Charlotte von Stein zunächst mit Zurückhaltung und Skepsis. Doch schon im Laufe des ersten Jahres intensivierte sich ihr Verhältnis. Anfang Oktober 1776 notiert sie auf der Rückseite eines Briefes von Goethe die folgenden Verse:
Obs unrecht ist was ich empfinde – –
und ob ich büßen muß die mir so liebe Sünde
will mein Gewißen mir nicht sagen;
vernicht’ es Himmel du! wenn michs je könt anklagen
Schon bald hatten sich im Umgang der beiden bestimmte Formen herausgebildet, die sich im Laufe der Jahre immer mehr verfestigten: Am Morgen erkundigt sich Goethe brieflich nach dem Befinden der Freundin; den Tag verbringen sie meist getrennt, Goethe widmet sich seinen verschiedenen Beschäftigungen, zuweilen isst er bei Charlotte zu Mittag. Wenn nicht Verpflichtungen bei Hofe dies verhindern, verbringen sie die Abende gemeinsam.
Ein solch enger persönlicher Umgang mit einer verheirateten Frau verstieß nicht zwangsläufig gegen die Konventionen der Zeit, in der die Ehe vor allem in adligen Kreisen meist keine enge Gemeinschaft darstellte und das Leben der Partner in getrennten Räumen und unterschiedlichen gesellschaftlichen Sphären üblich war. Die freundschaftlich offene Art, in der Goethe im Steinschen Haus verkehrte, wie auch die häufigen Erwähnungen von Ehemann und Söhnen in seinen Briefen an Charlotte belegen, dass er von Anfang an auch deren Familie in sein Verhältnis mit einschloss.
Obwohl Goethe nicht müde wird, immer aufs Neue seine »Liebe« zu gestehen, ist die Thematik der Briefe weitaus umfassender. Sie berühren nahezu alle Lebensbereiche und vermitteln einen Eindruck von der Komplexität der Beziehung. Charlotte von Steins Einfluss auf Goethe war indirekter, ambivalenter und viel weniger vordergründig erzieherisch als vielfach dargestellt. Der vertraute Umgang mit ihr, die durch ihre Herkunft, Erziehung und gesellschaftliche Stellung im Milieu des Hofes ganz zu Hause war, gab Goethe die Sicherheit, die ihm zu Beginn seiner Weimarer Zeit fehlte. Ihre vor allem mit Hilfe der Briefe imaginierte Allgegenwart wirkte als Inspiration und Antrieb für Goethes künstlerisches Schaffen. Umgekehrt wurde auch Charlotte von Stein durch ihre Freundschaft mit Goethe in vielfältiger Weise beeinflusst und zur Beschäftigung mit Kunst und Literatur sowie den verschiedensten Wissensgebieten angeregt.
»Daß Ihnen meine Komödie gefällt, hat mir rechte Lust gemacht«
Eine Zäsur bildete Goethes Reise nach Italien von September 1786 bis Juni 1788. Im Frühsommer 1789 kam es zum Bruch mit Goethe, der um diese Zeit schon mit Christiana Vulpius zusammenlebte. Bereits am 14. Juni 1787 war nach fast zweijähriger Krankheit Charlotte von Steins mittlerer Sohn Ernst gestorben. Ende 1793 starb Josias von Stein, gleichfalls nach längerer Krankheit. Der älteste Sohn Carl übernahm Schloss und Gut Kochberg. Der jüngste Sohn Friedrich trat in preußische Dienste und lebte ab 1795 in Schlesien, wo ihn die Mutter 1803 auf seinem Gut Strachwitz bei Breslau besuchte.
Nach dem Tod ihres Mannes und dem Weggang der Söhne wandte sich Charlotte von Stein wieder stärker ihren literarischen Neigungen zu. Ihre Briefe aus diesen Jahren zeugen von einem regen Interesse an Neuerscheinungen vor allem der deutschen Literatur. Sie pflegte ihre alten Freundschaften, insbesondere mit Wieland, dem Ehepaar Herder, Herzogin Louise und Carl Ludwig von Knebel. Eine lebenslange Freundschaft verband sie mit der fast 20 Jahre jüngeren Charlotte von Schiller geb. Lengefeld, durch die sie auch Schiller kennen lernte. Im September 1798 schrieb sie an Charlotte Schiller:
Daß Ihnen meine Komödie gefällt, hat mir rechte Lust gemacht, weiter zu schreiben; doch kann ich hier [in Kochberg] nicht recht fleißig sein. Es lebt sich hier so hübsch vom Genuß des Anschauens: meine Kinder treiben so eine hübsche Wirthschaft, und meine Schwiegertochter ist recht verständig und gut; und wenn ich erst Großmama werde, dann wird’s wohl mit dem Komödienschreiben gar zu Ende sein.
Die Zeit von Charlotte von Steins früher Witwenschaft und Freundschaft mit dem Ehepaar Schiller war die literarisch produktivste Periode ihres Lebens. Mit Ausnahme des Dramoletts »Rino« von 1776 entstanden ihre drei erhaltenen Dramen zwischen 1794 und 1805. (Link zur Schriftstellerin Charlotte von Stein) Durch das Ehepaar Schiller kam es etwa seit 1796 auch zu einer vorsichtigen Wiederannäherung zwischen Charlotte von Stein und Goethe.
Herzlicher wurde das Verhältnis erst nach Goethes schwerer Erkrankung im Jahr 1801, auf die Charlotte von Stein mit großer Anteilnahme reagierte. Seit 1804 nahm sie regelmäßig an den Gesellschaften in Goethes Haus teil, nach 1810 entwickelte sich eine Altersfreundschaft, die bis zum Tod Charlotte von Steins bestehen blieb.
»… mir ist’s dunckler um mich geworden«
Mit dem ehemaligen preußischen Offizier, Prinzenerzieher, Dichter und Übersetzer Carl Ludwig von Knebel verband Charlotte von Stein eine besondere Beziehung, getragen von gegenseitiger Sympathie und gemeinsamen Interessen. Mehr als 547 Briefe Charlotte von Steins an Knebel sind im Goethe- und Schiller-Archiv überliefert. Die Freundschaft zu Knebel war nicht frei von Schwankungen, hielt aber bis zum Lebensende Charlotte von Steins.
So konnte sie beispielsweise Knebels Euphorie, mit der er zunächst die Französische Revolution begrüßt hatte, nicht teilen: »Knebel ist ganz toll; wir haben uns über die Franzosen so entzweit, daß er in acht Tagen nicht wieder zu mir kommen will«, schrieb sie am 6. März 1790 an Charlotte Schiller. Die Verstimmung war – wie frühere und spätere auch – nicht von Dauer, zumal Knebels anfängliche Begeisterung sehr bald schon der Ernüchterung wich. Der Brief an Knebel vom 6. April 1825 ist eines der intimsten und erschütterndsten Zeugnisse aus der letzten Lebensphase Charlotte von Steins:
Mit zitternder Hand versuche ich ein paar Zeilen an Sie, um mich für die Herzstärkende poetische Zeilen zu bedancken, Sie sind glücklicher von der Natur ausgestattet indem das Gefühl mit den Verstand einen Weg geht, möge es Ihnen immer so bleiben, mir ist’s dunckler um mich geworden, und bin durch mein völliges Taubsein und beständige Kopffschmerzen in die Hölle versetzt wovon ich schon vor 50 Jahre bewiesen las daß es diese Welt sey.
Sie starb zwei Jahre später, kurz nach ihrem 84. Geburtstag. Knebel war es auch, der einen poetischen Nachruf für »Frau von Stein« verfasste, den er im Verlag von Friedrich Frommann drucken ließ und an Freunde in Weimar und Jena sandte.
Ein Gespräch im Hause Stein über den ab wesenden Herrn von Goethe
In den Hamburger Kammerspielen mit der unvergessenen Nicole Heesters..
Nach einigen Biographien und Safranski
Sehne ich mich nach verschiedenen Faustlesungen etc. nach weiteren Weimar Besuchen
http://www.matthiaswiebalck.de
Alles Veloziferisch oder Goethes Entdeckung der Langsamkeit !
Vielen Dank und weibliche männliche Stimmen im Klang…
LG
MW