Tipp · Winckelmann
Unter Schwestern
Wem gehört die Kunstgeschichte? Und wie schwul war sie eigentlich? Wie oft habe ich in den letzten Monaten gehört: »Winckelmann? War der etwa homosexuell?« Die sowohl durch eine Kooperation wie auch durch gegenseitige Leihgaben verbundenen Winckelmann-Ausstellungen im Neuen Museum Weimar und im Schwulen Museum* Berlin haben diese scheinbar banalen Fragen indirekt auf die Agenda gesetzt. Beide »Schwester-Ausstellungen« bieten unterschiedliche Zugänge zu inhaltlich ähnlichem historischem Material.
Das Ergebnis sind zwei einander ergänzende Sichtweisen: In enger Abstimmung haben sich Weimar und Berlin in den Vorgesprächen darauf geeinigt, in Berlin Winckelmanns offenen Umgang mit seiner Homosexualität zum Leitmotiv zu machen. Erstmals im Format einer Ausstellung erscheint der Begründer der klassischen Archäologie nun als lustbetonter, auf das »göttliche Geschlecht« fixierter »Ganymede« (so lautete ein damals in Europa grassierender Spottname für männliche Homosexuelle).
Schon die Zeitgenossen wussten um Winckelmanns erotische Vorlieben. Herder und Goethe sprachen sie offen an, der Weimarer Geheimrat – auch er mindestens in der Theorie durchaus empfänglich für ideale männliche Schönheit, wie zuletzt Daniel W. Wilson in ›Goethe.Männer.Knaben‹ nachzuweisen versuchte – machte sie in seiner Schrift ›Winckelmann und sein Jahrhundert‹ (1805) zum Thema und wurde für dieses »Outing« gescholten.
Im zunehmend prüden 19. Jahrhundert setzte sich dann, dies zeigen die Berliner Ausstellung und der Katalog, eine heteronormative Lesart Winckelmanns durch. Der Begründer des kunsthistorischen Kanons wurde nun selbst kanonisiert und vereinnahmt – zumindest von der offiziellen Kunstgeschichtsschreibung, die sich damit die Deutungshoheit über Winckelmann sicherte.
Eine Zäsur setzten erst Alex Potts (Flesh and the Ideal, 1994) und Heinrich Detering (Das offene Geheimnis, 1994). Parallel dazu hat von Anbeginn aber auch die schwule Community Winckelmanns ikonisches Potenzial als emanzipatorischer Vorreiter erkannt und genutzt: von den Kunst (und Männer) liebenden Italienreisenden des 18. Jahrhunderts – viele von ihnen auf der Flucht vor Verfolgung ob ihrer sexuellen Präferenzen – über August von Platen, der 1826 die Ode »An Winckelmann« verfasste.
Noch um 1900 bezogen sich unter anderem der Fotograf Wilhelm von Gloeden und der Maler Sascha Schneider – ihm widmete das Schwule Museum* vor einigen Jahren eine große Retrospektive – auf seine Ästhetik. Ein jüngst im Männerschwarmverlag erschienenes Lesebuch feiert den Gelehrten gar als »Popstar im 18. Jahrhundert« und als Vorläufer Oscar Wildes. Die Berliner Ausstellung zeigt, was mit den Mitteln der Camouflage damals möglich war – und was nicht.
Doch diese Aneignung der Person hat nach beiden Seiten hin ihre Fallstricke. In der deutschen Museumslandschaft gilt die ›schwule Lesart‹ selbst in einem so eindeutigen Fall wie Winckelmann immer noch als anrüchig. In Fachkreisen wird das Thema daher meist tabuiert. Umso subversiver muss der Ansatz wirken, der in Weimar und Berlin verfolgt wird: in Weimar als subtiler Subtext, in Berlin offensiver. Ein anderes Phänomen ist das unwissentliche Ausklammern des Aspekts, weil die biografischen Fakten im bildungsbürgerlichen Kontext schlichtweg nicht bekannt sind bzw. zwei Jahrhunderte lang, wenn überhaupt, nur schamhaft angesprochen wurden. Oder sie werden mal mehr, mal weniger elegant umschrieben, wie zuletzt in einer Online-Rezension (»dieses kitzelige Thema«).
Natürlich stellte sich im Vorfeld der Berliner Ausstellungsplanung die Frage: Darf man das? Und können kunst- und kulturhistorische Ausstellungen dieser Herausforderung überhaupt gerecht werden? Hausintern haben wir im Kreis der Mitarbeiter_innen des Schwulen Museums* die Relevanz einer solchen Schau lebhaft diskutiert und kamen zu dem Schluss: Wo anders als im Schwulen Museum* mit seinen einzigartigen Beständen zur Kulturgeschichte der (überwiegend) männlichen Homosexualität könnte sie stattfinden? Wie bei vielen Ausstellungen des Schwulen Museums* geht es einmal mehr um die Parallelisierung homosexueller und anderer nicht-heterosexueller Lebenswelten.
Indem die Ausstellung sich auf Exponate aus Winckelmanns Epoche und des 19. Jahrhunderts beschränkt, wird der begehrliche Blick auf den nackten männlichen Körper, die Winckelmann in Italien zu hymnischen Beschreibungen anregten, zum Leitmotiv. Das Sammeln, Abformen, Abzeichnen oder druckgrafische Reproduzieren der von ihm beschriebenen und zum vorbildhaften Schönheitsideal stilisierten Skulpturen und Kunstwerke war, wie das Schreiben über Kunst eine Möglichkeit, die sinnliche Erfahrung in der Begegnung mit der Antike in den Alltag hinein zu verlängern. Die zunehmende Prüderie des 19. Jahrhunderts, die sich im Retuschieren der Geschlechtsteile und in der Androgynisierung eigentlich männlicher Protagonisten spiegelt, spricht Bände.
Die im Untertitel der Berliner Ausstellung behauptete »Schwule Kunstgeschichte 1700-1850« ist bewusst provokativ. Aus homosexueller Sicht steht ihre Existenz außer Frage, unabhängig aller Versuche, sie zu marginalisieren und in den Bereich der Pseudo-Wissenschaftlichkeit abzudrängen. Beim ersten Besuch der Ausstellung im Neuen Museum Weimar kam mir und meiner Kollegin Claudia Keller, Mitkuratorin in Weimar, ein verlockender Gedanke: Es wäre durchaus möglich gewesen, den Hauptteil der Ausstellung im Neuen Museum Weimar, die ja leider bereits endete, allein durch Betextung und Kontextualisierung in eine ebenso »schwule« Ausstellung wie ihre kleine Berliner Schwester zu verwandeln – und zwar ohne ein einziges Exponat zu verrücken.
Übrigens würde vermutlich aus heteronormativer Sicht das Experiment auch umgekehrt funktionieren. Vielleicht ja für beide Seiten eine Anregung für eine inhaltliche Weitung der eigenen Perspektive?