Neugierige treffen Neugierige
Als ich in der zehnten Klasse war, stellte meine Deutschlehrerin das Cicerone-Projekt im Unterricht vor: »Unter dem Motto ›Bildung als Erlebnis‹ könnt ihr in Seminaren und Führungen zwei Wochen die Weimarer Kulturgeschichte kennenlernen«, sagte sie. Zwei Wochen Seminar in den Sommerferien? Damals hatte ich andere Sachen im Kopf.
Jetzt, fast zehn Jahre später, bekomme ich meine zweite Chance. Als Pressepraktikantin darf ich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des diesjährigen Cicerone Kurses bei ihren Führungen in der Herzogin Anna Amalia Bibliothek, dem Stadtschloss und dem Park an der Ilm begleiten. Ein ganz schön kulturell aufgeladener Tag.
Es ist kurz vor neun Uhr. Paula Seidel, Martin Friedrich Kagel und Justus H. Ulbricht, die Kursbetreuer, warten bereits vor der Bibliothek auf mich. Zwei Wochen werden sie mit den 25 Schülerinnen und Schülern aus ganz Deutschland auf dem Wielandgut in Oßmannstedt verbringen, sie mit Wissen füttern, Anekdoten aus dem eigenen und den Leben der großen Weimarer Persönlichkeiten erzählen und auch einfach Bezugsperson, Tröster und Schlichter sein.
Die 17 bis 19-Jährigen lassen noch etwas auf sich warten. Bus verpasst. Zeit für mich, mehr über das Projekt zu erfahren. »Cicerone ist ein Bildungsprojekt. Ein Luxusbildungsprojekt«, erklärt mir Leiter und Betreuer Justus H. Ulbricht. »Es vermittelt Wissen ohne Zeit- und Schuldruck an diejenigen, die sich auch wirklich dafür interessieren. Neugierige treffen auf Neugierige mit denselben Interessen.« Im Zentrum stehen die großen Fragen des Lebens: Humanität, Freundschaft, Ideale. Das Wissen soll anschaulich und fächerübergreifend vermittelt werden, von Kulturgeschichte, Germanistik, Philosophie über Kunstgeschichte bis hin zur Landschaftsarchitektur – umfassender, als es in der Schule möglich wäre. So versucht das Cicerone Projekt den Funken an die Schüler weiterzugeben, ein Interesse zu entflammen. Justus Ulbricht brennt für das Projekt. Die Jugendlichen erreichen, sie zum Nachdenken bringen, zeigen, wie aktuell Geschichte sein kann, darum geht es ihm.
Nach zirka einer halben Stunde kommen die Schülerinnen und Schüler gut gelaunt auf dem Platz der Demokratie an. Motiviert sehen sie aus. Das Klemmbrett unterm Arm, Smartphone und Stift gezückt, betreten wir den Rokokosaal, die »Bücherkirche von Weimar«, wie Martin sagt.
Die Ciceroni lassen den Raum auf sich wirken. Martin und Justus erzählen vom Brand, der glücklichen Rettung der Lutherbibel, von der Restaurierung der Dielenböden und der Aschebücher. Sie wissen von Carl Augusts Bücherdrang zu berichten, der sich sogar Geld von ortsansässigen Bäckern lieh, um seine Büchersammlung zu erweitern. Und sie erläutern, woher das Sprichwort »ein Buch aufschlagen« kommt: Die Bände hatten damals oft Metallverschlüsse. Um alle gleichzeitig zu öffnen, gab man dem Buch einen Klaps auf den Rücken; man »schlug« es also auf.
»164 Augen beobachten euch im Rokokosaal«, sagt Martin. 82 Statuen, darunter Wieland, Goethe, Herder, Schiller und einige Weimarer Herzöge, blicken von Wänden, Sockeln und aus Ecken. Schon zu Lebzeiten der Dichter und Denker standen sie dort. Wie erinnerte man damals, wie erinnert man heute? Und wer sind eigentlich die »Urväter« der Weimarer Kultur und Literatur? Darüber sollen sich die Jugendlichen Gedanken machen.
Um Erinnerungskultur geht es auch beim anschließenden Rundgang durch die Dichterzimmer im Westflügel des Weimarer Stadtschlosses. Die Großherzogin Maria Pawlowna ließ hier zwischen 1835 und 1848 Räume für die vier großen Weimarer Klassiker einrichten. Goethe, Schiller, Herder und Wieland waren tot, einzig ihre Texte waren geblieben. Museen gab es zu der Zeit noch nicht, wie konnte also an sie erinnert werden?
In Schillers Gedenkzimmer, wie auch in den anderen, ist der Dichter selbst in Gestalt einer Büste gegenwärtig. Große Gemälde rufen sieben Dramen in Erinnerung. Ein Wettstreit entbrennt unter den Viellesern. Wer erkennt die meisten Szenen? »Wilhelm Tell« ist einfach, bei »Wallenstein« und der »Braut von Messina« müssen hingegen fast alle passen.
Am Ende ihres Aufenthalts sollen die Schülerinnen und Schüler in einem der besuchten Museen ein Thema präsentieren. Person, Werk, Epoche, Gegenstand – das ist ihnen selbst überlassen. Noten und Leistungsdruck gibt es nicht, sie machen das ja freiwillig.
Nach der Mittagspause begleite ich die Ciceroni in den Park an der Ilm. Zeit, sie besser kennenzulernen. »Warum nehmt ihr am Cicerone-Kurs teil?«, will ich natürlich wissen. Viele berichten von ihrem Interesse für Literatur; da komme man an Goethe und Schiller nicht vorbei. »Liszt und Bach, die klassische Musik, das gehört genauso zu Weimar«, schwärmt ein anderer. Einige wurden auch von ihren Lehrern zur Teilnahme angeregt.
Nun stehen wir wieder vor der Herzogin Anna Amalia Bibliothek, auf der dem Park zugeneigten Seite. In den vergoldeten Fenstergittern sind die Initialen IVG »Ich vertraue Gott« und GSMT »Gott sei mein Trost« zu lesen. Justus Ulbricht erklärt, dass dieses Vertrauen in Gott und der von Gott vorgezeichnete Lebensweg mit der Aufklärung und der Französischen Revolution beginnen wegzubrechen. Der Begriff »Kulturnation« entsteht zur Zeit Goethe und Schillers. Da die Religion an Bedeutung verliert, suchen die Menschen nach neuen Deutungsmöglichkeiten für das Leben. So finden beispielsweise am aufgeklärten Hof von Carl August Literaturzirkel und Theateraufführungen statt. Wer könnte diese Orientierungslosigkeit besser nachvollziehen als ein junger Mensch?
Nach diesem tagesfüllenden Führungsprogramm muss ich erstmal meine Gedanken sortieren. Die Parallelen der Goethezeit zu meinem Leben haben mich nachdenklich gemacht. Was sind eigentlich meine Ideale? Wie setze ich mich für Humanität ein? Fragen, über die es sich lohnt hin und wieder nachzudenken.