Tipp · Kosmos Weimar
5 Fragen an Gertrude Lübbe-Wolff
Frau Prof. Lübbe-Wolff, über das Grundgesetz hatten Sie einmal gesagt, man könne es als ein Integrationsprogramm bezeichnen. Wie genau meinen Sie das?
Das Wort »Integration« bezieht sich nicht speziell und ausschließlich auf die Integration von Zuwanderern, auch wenn es hier am häufigsten gebraucht wird, sondern ganz allgemein auf das Zusammenfügen und Einbinden. Im politischen Zusammenhang also auf das Einbinden von Menschen und Menschengruppen in eine Gemeinschaft, die friedlich und gedeihlich zusammenlebt. Moderne Verfassungen sollen genau das ermöglichen: dass Menschen, die nach Religion, Herkunft, sozialer Rolle usw. ganz unterschiedlich sind und ganz verschiedene Weltsichten haben, in einer Gesellschaft trotzdem friedlich zusammenleben und kooperieren. Migration ist eine Quelle solcher Unterschiede, aber bei weitem nicht die einzige. Eine moderne demokratische Verfassung akzeptiert die Verschiedenheiten und verbietet es, ihretwegen zu diskriminieren. Zugleich setzt sie den Rahmen für demokratisches Entscheiden über die Regeln, an die sich alle halten müssen.
Was kann dafür getan werden, dass sich Menschen mehr mit dem Grundgesetz und der Demokratie auseinandersetzen? Gerade auch, wenn sie neu in Deutschland ankommen?
Für Asylbewerber gibt es Integrationskurse. Da werden in erster Linie Deutschkenntnisse vermittelt, aber es gehören auch Orientierungskurse dazu, in denen die Teilnehmer mit Grundregeln der Verfassung und der sonstigen Rechtsordnung und mit den hiesigen Üblichkeiten bekanntgemacht werden.
Wir müssen unterscheiden, was von Einwanderern rechtlich erwartet und was nur erhofft und gefördert werden kann. Erwarten können wir die Einhaltung der Rechtsvorschriften. Darüber hinaus ist es wünschenswert, dass Menschen, die hier einwandern, auch die Werte und Überzeugungen teilen, auf denen das Funktionieren unserer demokratischen und rechtsstaatlichen Ordnung beruht. Aber Gemeinsinn, Vertrauen und Loyalität zu öffentlichen Institutionen, Bereitschaft zu sachlicher Kritik, innerliche Anerkennung der Gleichberechtigung von Frauen usw., das können Sie nicht verordnen. Sie können verbieten, dass man seine Ehefrau schlägt und Menschen beleidigt oder bedroht, die eine andere sexuelle Orientierung, Religion oder ethnische Zugehörigkeit haben, dass man Beamte besticht oder vor Gericht Meineide zugunsten von Verwandten schwört. Aber Wertschätzung für unsere Regeln des Zusammenlebens und Respekt für Menschen, die anders leben oder denken als man selbst, das lässt sich nicht verordnen. Das muss wachsen, und das wächst dadurch, dass man sich einlebt, dass man Arbeit, Anerkennung – nicht nur in der eigenen Gruppe – und Chancen für die eigenen Kinder findet und bei alledem die Vorzüge unserer Lebensweise kennenlernt. Das kann durchaus auch mal länger dauern, und jedenfalls klappt es nur, wenn und soweit die Gesellschaft in der Lage ist, ausreichende Perspektiven zu eröffnen.
Deshalb kann man Zuwanderer, vor allem bei schlechten Bildungsvoraussetzungen, nicht in beliebiger Menge integrieren. Es klappt mit der Integration übrigens auch nicht bei allen Alteingesessenen. Wenn zum Beispiel wegen einer Bemerkung, über die man sich streiten kann, ein Parteivorsitzender sagt, dass man die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung, die türkische Vorfahren hat, nach Anatolien entsorgen sollte, dann fehlt es dem an Integration in die hiesige demokratische Kultur.
Wie kann man Kenntnisse vom Grundgesetz und demokratische Kultur vermitteln?
Das ist nicht zuletzt eine Frage von Bildung und Unterricht. Nur Worte reichen da aber nicht. Eine Kultur der gemeinschaftlichen Selbstbestimmung muss auch erlebt und erfahren werden. Schon Schüler müssen Selbstbestimmung und Selbstverantwortung, individuell und in den gemeinsamen Angelegenheiten, üben und erfahren. Da sehe ich im Bildungssystem noch viel Luft nach oben.
Wodurch sehen Sie die Demokratie derzeit am stärksten bedroht?
Es gibt verschiedene Risiken, und ich möchte da keine Hierarchie aufmachen. Generell ist es sicher so, dass Menschen gegen eine bestehenden Ordnung, ob das jetzt die Demokratie oder etwas anderes ist, empfindlich werden und nicht mehr an sie glauben, wenn sie das Gefühl haben, es seien Entwicklungen völlig außer Kontrolle geraten, oder ihre Interessen kämen einfach nicht mehr vor. Riskant ist es auch, wenn sich der Eindruck ausbreitet, dass Zurechnung und Verantwortung den Bach runtergehen. Jeder Mensch hat dafür ein Grundgefühl, es ist Teil des Gerechtigkeitsgefühls. Funktionierende menschliche Gemeinschaften beruhen darauf, dass Verhalten zugerechnet wird und dass man für sein eigenes Verhalten Verantwortung trägt. Es gibt individuelle Zurechnung und Verantwortung und es gibt Zurechnung und Verantwortung im Kollektiv.
Wenn sich das auflöst, wenn zum Beispiel große Unternehmen oder ganze Staaten für ihre Fehler und ihre Schulden nicht mehr selbst haften, sondern andere geradestehen müssen, oder wenn die Polizei bestimmte Formen von Kriminalität fast gar nicht mehr verfolgt, weil sie überlastet ist, das beunruhigt. Zu recht. Aber sich deshalb etwas anderes als eine demokratische Regierungsform zu wünschen, wäre schon paradox. Es liefe nicht auf mehr Verantwortlichkeit der Regierenden hinaus, sondern auf weniger.
Einige Politiker fordern in Deutschland immer wieder mehr direkte Demokratie, beispielsweise durch Volksentscheide. Halten Sie das für empfehlenswert?
Ja. Volksentscheide sind die richtige Kur für eine ganze Reihe von Problemen der repräsentativen Demokratie. Ich nenne nur zwei: Eins der Probleme ist, dass in der repräsentativen Demokratie, in der man nur durch seine Wahlentscheidung alle paar Jahre Einfluss nehmen kann, der Bürger nur zwischen fertig geschnürten Politikpaketen wählen kann. Die Parteien müssen dem Wähler ja ein zusammenhängendes Programmpaket präsentieren, für das sie gewählt werden wollen und aus dem sich nicht jeder nur das herauspicken kann, was ihm gefällt. In unserer individualisierten und teils auch in gewisser Weise entideologisierten Gesellschaft hat die Prägekraft von Milieus, aus denen man ein ganzes Weltbild schöpft, abgenommen. Beispielsweise war früher für sehr viele Menschen der Umstand, dass sie katholisch waren, auch politisch entscheidend, man richtete sich in politischen Fragen nach der Kirche. Heute bilden sich die Menschen ihre Meinungen viel individueller und sind dementsprechend unzufriedener mit den vorgesetzten Präferenzpaketen. Bei der einen Partei gefällt einem dies, etwas anderes überhaupt nicht. Bei der nächsten Partei ist man auf andere Weise unzufrieden. Direkte Demokratie ist das einzige Mittel, mit dem sich die unbefriedigenden Pakete aufschnüren lassen. Damit ist sie auch das richtige Mittel, um die Repräsentanten enger an die Anliegen der Wähler zu binden.
Ein zweites, mit dem ersten zusammenhängendes Problem ist die Verselbstständigung der internationalen Politik. Es gibt eine Tendenz der auswärtigen Politik, in Fragen der Globalisierung und der Europäisierung den Wünschen der Bürger davonzueilen. Wenn das zu oft und zu weitläufig passiert, dann gibt es Gegenreaktionen, bis hin zum Wiedererstarken eines hässlichen Nationalismus. Auch da wäre es hilfreich, wenn die Bürger die Möglichkeit direkter Einwirkung durch Volksabstimmungen hätten, beispielsweise wo es um die Übertragung weiterer Zuständigkeiten auf die EU geht. Natürlich werden dann manche Fortschritte nicht unbedingt leichter. Aber die Forstschritte, die man macht, sind dann gewollt und sicherer verankert.
Gertrude Lübbe-Wolff ist Distinguished Fellow 2017 des Kollegs Friedrich Nietzsche. In vier Vorlesungen, vom 27. bis 30. September 2017, diskutiert sie »Verfassung, Demokratie und Integration zwischen Nationalstaat und Globalisierung« im Studienzentrum der Herzogin Anna Amalia Bibliothek.