»Zukunft ist für Nietzsche etwas, das offen ist und uns gehört«
Der Philosoph und Politikwissenschaftler Dr. Helmut Heit forschte im Laufe seines Berufslebens schon in Brasilien und China. Seit Januar leitet er nun das Kolleg Friedrich Nietzsche in Weimar. Wir sprachen mit ihm über den Reiz der Philosophie Nietzsches und warum er die Bezeichnung »Nietzscheaner« seltsam findet.
Herr Heit, bekommt Friedrich Nietzsche heute die Aufmerksamkeit, die er verdient?
Nietzsche bekommt viel Aufmerksamkeit, er verdient aber auch sehr viel Aufmerksamkeit. Ich würde mir allerdings noch mehr Aufmerksamkeit für die subtileren Überlegungen Nietzsches wünschen. Vieles von dem, was im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses steht, bewegt sich in der Welt des Klischees: »Wenn du zu Frauen gehst, vergiss die Peitsche nicht« oder »Was uns nicht tötet, macht uns stärker« – solche Dinge eben, die meiner Meinung nach aber das Uninteressanteste an Nietzsche sind. Was mich an Nietzsche fasziniert, ist, dass er nicht nur Fachphilosophen interessiert – das tut er auch, auf der ganzen Welt – sondern eben auch normale Leute.
Warum ist das so?
Ich glaube, weil Nietzsche eine Sprache gefunden hat, um über philosophische Probleme zu sprechen, mit der man unmittelbar etwas anfangen kann. Das ist auch meine eigene Leseerfahrung. Man liest Nietzsche und denkt sofort »aha, interessant« und streicht sich etwas an. Und dann liest man ihn zwei Jahre später nochmal und denkt sich »aha, der Satz, den ich nicht angestrichen habe, ist eigentlich noch viel interessanter« – und das setzt sich im Grunde unbegrenzt fort.
Was hat Nietzsche uns heute noch zu sagen?
Man kann Nietzsche als einen kritischen Diagnostiker seiner Gegenwart begreifen, von dem man methodisch sehr viel lernen kann. Das lässt sich vielleicht am besten am Titel einer Schrift illustrieren, die nach »Also sprach Zarathustra« entstanden ist und die »Jenseits von Gut und Böse. Vorspiel einer Philosophie der Zukunft« heißt. Dort kommt für meine Begriffe sehr viel von dem zusammen, wofür Nietzsche steht und was Nietzsche auch heute noch interessant macht. Mit »Jenseits von Gut und Böse« ist ja nicht in erster Linie gemeint, dass man sich außerhalb moralischer Orientierungen stellt, sondern dass man versucht, über grundsätzliche Fragen nachzudenken, ohne gleich die Schere im Kopf zu haben. Also nicht direkt in die typischen Muster von Gut und Böse, akzeptabel und nichtakzeptabel, anerkennungswürdig und nichtanerkennungswürdig zu verfallen. Das ist etwas, worauf Nietzsche großen Wert legte: Sich von Standardorientierungen zumindest gedanklich zu lösen.
Und der Untertitel ist eigentlich noch schöner – und dass nicht nur wegen der vielseitigen und vielsinnigen Bedeutung von Vorspiel, das etwas Spielerisches, Experimentelles, aber auch Appetitanregendes hat: Es geht um eine Philosophie der Zukunft, ein ganz zentrales Thema für Nietzsche. Er ist zwar bekannt für seine genealogischen Studien, in denen er sich die Entwicklungsschritte genau anschaut, die in der Vielfalt der historischen Zufälle in unsere Gegenwart geführt haben – aber eben immer mit dem Interesse, von dort aus Zukunft neu zu gestalten. Zukunft ist für Nietzsche etwas, das offen ist und das uns gehört. Und da, denke ich, sind Nietzsches Überlegungen heute besonders interessant. Ein Zitat aus einer anderen Schrift Nietzsches, »Die fröhliche Wissenschaft«, fasst das gut zusammen: »Ich lobe mir jede Art von Skepsis, auf welche mir erlaubt ist zu sagen: Versuchen wir’s!«
Sie waren lange Zeit im Ausland tätig. Wird Nietzsche dort anders wahrgenommen?
Da gibt es sehr viele bemerkenswerte Unterschiede. Ich habe ja einen Teil meines Berufslebens in den USA verbracht, in Brasilien und die letzten Jahre in China. Und vielleicht ist China der interessanteste Kontrast. In China wird Nietzsche sehr viel gelesen, sowohl privat als auch akademisch. Und häufig ist Nietzsche dort – auch in der akademischen Betrachtung – ein Denker des radikalen Individualismus und der heroischen, einzelgängerischen Existenz. Nietzsche steht damit eigentlich immer schon in einem Konflikt mit verbreiteten chinesischen Denktraditionen, Anfang des 20. Jahrhunderts mit dem Konfuzianismus, später dann mit den Kollektivierungskonzepten der Kommunistischen Partei Chinas. Nietzsche hat dort nach wie vor viel stärker den Charakter eines ›Enfant terrible‹. Was man an Nietzsche in China zugleich besonders schätzt, ist seine poetische Sprache, die sich einerseits sehr gut ins Chinesische übersetzen lässt, aber andererseits auch einen spezifischen Tiefsinn, einen bestimmten Typus von Philosophie verkörpert. Und das reizt die Chinesen, wenn man das so sagen darf, noch einmal viel mehr, als das insbesondere in der akademischen Philosophie in Deutschland der Fall ist.
In Deutschland ist die akademische Philosophie – sofern sie sich mit Nietzsche beschäftigt – viel stärker an einer detaillierten Rekonstruktion von spezifischen philosophischen Positionen zu spezifischen philosophischen Problemen interessiert. Das hat auch damit zu tun, dass man in Deutschland in den Jahren bis 1945 Nietzsche sehr stark als Kultfigur inszeniert hat, als einen Denker des Geheimnisvollen, einen Denker für Eingeweihte. Und dagegen gibt es heute eine sehr starke Aversion, eine Gegenbewegung, mit der man versucht, von dieser Art des Umgangs mit Nietzsche loszukommen. Nietzsche soll und wird nicht mehr als ansteckender, unheimlicher Kultautor verstanden. Das ist natürlich richtig, so bin ich auch sozialisiert und finde es daher immer seltsam, mich als »Nietzscheaner« zu bezeichnen. Aber ich habe in China dann doch gemerkt, dass es auch interessant ist, sich versuchsweise mit einem Denker wie Nietzsche gemein zu machen und ihn nicht immer gleich aus akademischer Distanz zu betrachten. Was kann man ganz im Ernst mit Nietzsches Überlegungen anfangen? Das hat mich sehr inspiriert.
Sie waren bereits selbst als Stipendiat am Kolleg Friedrich Nietzsche – was hat Sie gereizt, nach Weimar zurückzukehren? Wo wollen Sie hin mit dem Kolleg?
Das Kolleg Friedrich Nietzsche eröffnet ungewöhnlich attraktive Möglichkeiten: Es ist eine philosophische Forschungseinrichtung, es ist aber auch eine Institution, von der aus Denkanstöße in die unterschiedlichsten Richtungen möglich sind. Dies hängt nicht zuletzt mit seiner Verortung in Weimar, diesem ungeheuer geschichtsträchtigem Ort, zusammen.
Mir liegt daran, jenseits von Nietzsche über die Themen zu diskutieren, zu denen er etwas Interessantes zu sagen hatte. Ich denke da insbesondere an das Thema »Ambivalenzen der Modernisierung«. Der Prozess der Modernisierung hat insbesondere den Menschen in den westlichen Gesellschaften große Freiheitsspielräume und große Wohlstandsgewinne ermöglicht, ist gleichzeitig aber auch mit einer Vielzahl von Zumutungen verbunden. Es gibt da für meine Begriffe ein großes Bedürfnis, noch einmal grundsätzlich zu diskutieren: In welche Richtung soll sich unsere Gesellschaft entwickeln? Welche Art von Konfliktlösung wollen wir suchen? Welche Umgangsformen wollen wir pflegen? In diesem Zusammenhang freut es mich sehr, dass der Sozialpsychologe Prof. Harald Welzer im Juli in Weimar sprechen wird. Auch längerfristig würde ich zu diesem Thema gerne eine Reihe von unterschiedlichen Veranstaltungen in Kooperation mit verschiedenen Partnern machen.