Die Reden zum
Jahresempfang
Hier finden Sie die Rede von Hellmut Seemann, Präsident der Klassik Stiftung, zum Nachlesen und -hören.
Die Rede von Benjamin-Immanuel Hoff, Minister für Kultur, Bundes- und Europaangelegenheiten und Chef der Staatskanzlei des Freistaats Thüringen, finden Sie ebenfalls zum Nachhören hier:
Von Hellmut Seemann
»Winckelmanns und Goethes Griechen, Victor Hugos Orientalen, Wagners Edda-Personnagen, Walter Scotts Engländer des 13. Jahrhunderts – irgendwann wird man die ganze Komödie entdecken: Es war alles und über alle Maßen historisch falsch, aber – modern, wahr!«
Dieser Aphorismus aus dem Nachlass von Friedrich Nietzsche, der in Elisabeth Förster-Nietzsches Kompilation ›Der Wille zur Macht‹ Karriere machte, sollte unsere Aufmerksamkeit wecken. Bei uns in der Klassik Stiftung zumal, weil wir in diesem Jahr eine Winckelmann-Ausstellung ins Zentrum unserer Veranstaltungen stellen, die den Untertitel ›Moderne Antike‹ trägt. Winckelmann also hat, glaubt man Friedrich Nietzsche, historisch alles falsch gesehen, aber gerade darin war er ›wahr‹! Dieses Verhältnis von falsch und wahr sei geradezu das Signum der Moderne: Ein Janusgesicht. Aber ich finde, dass der behauptete Zusammenhang von Modernität, Falschheit, Historizität und Wahrheit auch all diejenigen, die sich eigentlich von Winckelmann eher gelangweilt fühlen, aufmerken lassen sollte: Haben wir nicht in unseren Tagen wieder viel mit Wahrheit und Lüge, mit der Moderne und ihren postmodernen Fälschungen zu tun?
2017 – ein Winckelmann-Jahr. Die Klassik Stiftung, könnte man meinen, habe die Thematik dieses Jahres vollkommen verpennt. Überall ist von der Reformation und dem Reformator im 500. Jahr des Thesenanschlags die Rede, da spricht die Klassik Stiftung in kapriziöser Selbstisolierung – über Winckelmann. Natürlich könnte ich auf den Vorwurf, die Stiftung lebe mal wieder hinter dem Mond – wobei man in diesem Falle wegen der zeitlichen Abläufe eigentlich sagen müsste: vor dem Mond – erwidern, unsere Luther-Pflicht sei längst abgeleistet. 2015 haben wir die Cranach-Werkstatt und damit die Luther-Ikonographie in den Fokus gestellt und im vergangenen Jahr die Dynastie der Ernestiner: Was wären die Ernestiner ohne Luther und, wohl bemerkt!, Luther ohne die Ernestiner?
Ich könnte mich und damit die Stiftung also sehr leicht gegen den Vorwurf, nicht auf der Höhe unserer Jubiläen zu sein, immunisieren, aber mir soll es in den kommenden Minuten nicht darum gehen, die Kontingenz, die in jedem Jubiläum liegt, dadurch zu unterstreichen, dass ich das eine Spotlight durch ein anderes in den Schatten zu stellen suche. Denn das würde die Zufälligkeit, die von solcher, von einer Jahreszahl vorgegebenen Einlassung sowieso immer ausgeht, nur verschärfen. Stattdessen gilt es, die Jubiläen von 500 Jahren Reformation und 300 Jahren Winckelmann zu kontextualisieren: Was haben Luther und Winckelmann sowie die Rezeption Luthers und Winckelmanns bei Goethe und Nietzsche miteinander zu tun? Warum beschäftigt sich eine Klassik Stiftung unter dem Stichwort ›Moderne Antike‹ – und damit gleichsam unter Auslassung dessen, was zwischen Antike und Moderne liegt, mit Winckelmann? Nun eben deshalb, weil Winckelmann die Antike modern gemacht hat. Was war und ist so modern an dieser Antike, dass noch die Post-Moderne davon sprach, die Klassische Moderne des 20. Jahrhunderts, also zum Beispiel auch das Bauhaus, sei unsere Antike?
Damit sollten wir uns beschäftigen. Nicht aus bildungsbürgerlicher Pflichtübung, sondern in der Gewissheit, dass sich verantwortetes Leben und Denken darin erweist, den eigenen Standpunkt, die eigene Definition davon, was die Forderung des Tages ist, jeweils dadurch zu aktualisieren, dass man sich bemüht, die historische Herleitung des eigenen Standpunktes zu verstehen. Es geht eben nicht, sich einfach hinzustellen und irgendetwas zu behaupten, sondern es soll dabei bleiben, dass es dies unabschließbare Bemühen um historisches Verstehen geben soll, auch wenn es eine Herausforderung an jeden einzelnen und an die gesellschaftliche Kommunikation darstellt. Die Herausforderung heißt: Verzicht auf einfache Antworten. Das ist das eigentliche Ethos der Geisteswissenschaften, denen diese Stiftung, insoweit sie eine Forschungseinrichtung ist, als Quelleninstitut mit ihrer herausragenden wissenschaftlichen Erschließungskompetenz zugleich angehört und zuarbeitet. Ich bin stolz darauf, dass dies so ist, dass wir also mit der Klassik Stiftung nicht das Ziel verfolgen, Weimar zu einem Ort der kulturellen Biedermeierlichkeit zu verniedlichen, sondern dass wir als Forschungseinrichtung unser Selbstverständnis darin finden, die Komplexität und Ausdifferenzierung geistiger Prozesse in ihrer historischen Herleitung als unsere Aufgabe anzusehen.
Dies ist ein politisches Statement. Es ist sogar ein politisches Bekenntnis: Die Komplexität zu lieben und die Simplifizierung zu verachten. Ich weiß, wovon ich spreche. Der 45. Präsident der Vereinigten Staaten hat am Tag nach seiner Vereidigung, also als gleichsam erste symbolische Amtshandlung, am 21. Januar 2017 verkünden lassen, dass er das NEH, das Sie vermutlich gar nicht kennen und das tatsächlich auch gar nicht so bedeutend ist, auflösen werde. NEH steht für ›National Endowment for the Humanities‹. Das NEH ist also die Stiftung der Vereinigten Staaten zur Förderung der Geisteswissenschaften. Hier werden Forschungsprojekte gefördert, besondere Leistungen durch Auszeichnungen hervorgehoben und geisteswissenschaftliche Netzwerke unterstützt. Alles nicht so wichtig, insbesondere wenn ich hinzufüge, dass dieses Endowment die Vereinigten Staaten von Amerika gerade einmal 148 Millionen Dollar pro Jahr kostet. 148 Millionen, das waren im Jahr 2016 0,003 Prozent des amerikanischen Staatshaushaltes. An diesem Staatshaushalt kann es also nicht liegen, wenn der 45. Präsident dieses großartigen Landes zuerst an das NEH denkt, wenn er ans Regieren geht.
Übertragen auf die finanziellen Verhältnisse der Klassik Stiftung hätte man dieselbe Relation, wenn der neugewählte Präsident dieser Stiftung am ersten Tag nach seiner Amtseinführung an die Öffentlichkeit ginge mit der Nachricht, er werde den Handtuch-Service im Stadtschloss zu Weimar kündigen, weil er entschlossen sei, durch diese Maßnahme 2.250 Euro im Jahr einzusparen. 2.250 Euro sind im Verhältnis zum Gesamthaushalt der Stiftung so viel wie 148 Mio. Dollar im Verhältnis zum Staatshaushalt Amerikas. Jeder würde diesen Handtuchservice-Präsidenten für einen Verrückten halten, für einen Mann mit Hygiene-Phobie oder mit Pfennig-Paranoia – jedenfalls aber für einen Mann, der ein behandlungsbedürftiges Krankheitssymptom zum Leitmotiv seines Handelns gemacht hat. Es geht bei der Einstellung des NEH nicht ums Geld. Es geht um die Ablehnung einer Haltung, die Menschen gegenüber der Welt und insbesondere gegenüber den Hervorbringungen des menschlichen Geistes einnehmen können, kurz gesagt, es geht um den Hass gegenüber allen, die Freude an komplexen und niemals abschließbaren Fragen haben.
Wir, die Community der Büchermenschen, die sich für kultur- und geisteswissenschaftliche Fragen interessieren und bereit sind, der Beantwortung dieser Fragen ihr Leben zu widmen, obwohl sie wissen, dass sie eine abschließende Antwort niemals finden werden, wir sollten in der Lage sein, den großen, mächtigen, reichen, umworbenen 45. Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika so zur Weißglut zu bringen, dass er glaubt, ausgerechnet unser Metier bereits am ersten Tag seiner Amtszeit abstrafen zu müssen? Ich kann es nicht anders sagen, darüber freue ich mich.
W.G. Sebald: ›Austerlitz‹
»Unter der Woche ging ich tagtäglich in die Nationalbibliothek in der Rue Richelieu, wo ich meist bis in den Abend hinein in stummer Solidarität mit den zahlreichen anderen Geistesarbeitern an meinem Platz gesessen bin und mich verloren habe in den kleingedruckten Fußnoten der Werke, die ich mir vornahm, in den Büchern, die ich in diesen Noten erwähnt fand, sowie in deren Anmerkungen und so immer weiter zurück, aus der wissenschaftlichen Beschreibung der Wirklichkeit bis in die absonderlichsten Einzelheiten, in einer Art von ständiger Regression, die sich in der bald vollkommen unübersichtlichen Form meiner immer mehr sich verzweigenden und auseinanderlaufenden Aufzeichnungen niederschlug. Neben mir saß meist ein älterer Herr mit sorgsam gestutztem Haar und Ärmelschonern, der seit Jahrzehnten an einem Lexikon zur Kirchengeschichte arbeitete, in welchem er bis an den Buchstaben K gelangt war und das er also nie würde zu Ende bringen können. Mit einer winzigen, geradezu gestochenen Schrift füllte er, ohne je zu zögern oder etwas durchzustreichen, eine seiner kleinen Karteikarten nach der anderen und legte sie dann nach einer genauen Ordnung vor sich aus.
Irgendwann später, sagte Austerlitz, habe ich einmal in einem kurzen Schwarzweißfilm über das Innenleben der Bibliothèque Nationale gesehen, wie die Rohrpostnachrichten aus den Lesesälen in die Magazine sausten, entlang der Nervenbahnen sozusagen, und wie die in ihrer Gesamtheit mit dem Bibliotheksapparat verbundenen Forscher ein höchst kompliziertes, ständig sich fortentwickelndes Wesen bilden, das als Futter Myriaden von Wörtern braucht, um seinerseits Myriaden von Wörtern hervorbringen zu können… Nicht selten beschäftigte mich damals die Frage, ob ich mich in dem von einem leisen Summen, Rascheln und Räuspern erfüllten Bibliothekssaal auf der Insel der Seligen oder, im Gegenteil, in einer Strafkolonie befand …«
Alle Leidenschaften des Geistes:
- die Leidenschaft Luthers, das Evangelium in seiner Muttersprache neu zu verstehen
- die Verzückung Winckelmanns bei der Betrachtung und Beschreibung des Apoll vom Belvedere
- die lebenslange Arbeit Goethes daran, den Menschen der Moderne als ein tief zerrissenes Doppelwesen auf die Bühne zu stellen
- und auch noch die Leidenschaft Nietzsches, der Kontingenz des historischen Allzusammenhangs dadurch zu entkommen, dass er sich entschloss, den Neuen Menschen aus sich hervorzutreiben
alle diese leidenschaftlichen Unternehmungen, sie beginnen mit dem Buch, mit der Lektüre, mit der Bibliothek. Geistes- und Kulturwissenschaften können sich auf alles und jedes in der Welt beziehen, wenn es nur Produkt geistiger Tätigkeit des Menschen ist. Aber das Mittel, mit dem diese Wissenschaft arbeitet, ist und bleibt zuerst und bis heute: das Buch.
Dass der Buchdruck und das Buch am Beginn des 16. Jahrhunderts eine entscheidende Rolle für die Reformation spielten, ist keine Neuigkeit. Doch was der Buchhistoriker Andrew Pettegree nunmehr in seinem gerade auch auf Deutsch erschienenen Buch ›Die Marke Luther‹ herausarbeitet, ist dann doch fast unglaublich. Man kann sagen: Luther machte Wittenberg innerhalb weniger Jahre und im Alleingang zum wichtigsten Verlagsort in Deutschland. War die junge Universitätsstadt, an die Luther 1512 berufen wurde, zunächst auch als Stadt des Buches noch tiefe Provinz, in der es überhaupt erst seit zehn Jahren, nämlich seit dem Jahr 1502, eine einzige Druckerpresse gab, so sollte sich das rasch ändern. Die Flugschrift sowie das kurze, auf wenige Seiten verdichtete Traktat, sie wurden Luthers Markenzeichen.
Im Jahr 1513, als seine erste Publikation, noch anonym, erschien, kamen aus Wittenberg gerade einmal zehn Werke, allesamt in lateinischer Sprache. 30 Jahre später gibt es sechs Druckereien, die 83 Bücher publizieren, davon die Hälfte auf Deutsch. Zwischen dem Reformationsjahr 1517 und dem Todesjahr 1546 werden in Deutschland 2.721 Werke veröffentlicht. Luther allein ist der Autor von etwa 900 dieser Schriften. Seine Gesamtauflage könnte nach Schätzungen Pettegrees die Zweimillionen-Grenze leicht überschritten haben. Luther hatte Deutschland zu einem Bücherland gemacht, in dem, schon im Jahre 1523, dreimal so viele Bücher gedruckt und verkauft wurden wie in Italien und Frankreich zusammengenommen. Das Buch war aus der Sphäre des Luxusartikels herausgewachsen und ein Teil der Alltagskultur geworden.
Welche Bedeutung Luther für die evangelische Theologie, für das Verhältnis von Kirche und Staat, für den Prozess der Säkularisierung und damit die Vorbereitung der Moderne gehabt hat, all dies wird uns in diesem Jahr immer wieder beschäftigen. Die unendliche Debatte darüber wird weitergehen. Ideengeschichte hat lange Leitungen. Heute Abend geht es mir bei Luther um einen einzigen Aspekt: Den Deutsch schreibenden Popular-Autor und den entscheidenden Einfluss, den dieser auf die deutsche Bildungslandschaft ausgeübt hat. Denn damit rauschen wir durch 200 Jahre wie auf einem fliegenden Teppich an die Wiege von Johann Joachim Winckelmann.
Der bedeutende Altphilologe des 20. Jahrhunderts, Werner Jaeger, Schüler von Wilamowitz-Moellendorff, fasst 1929 die Geschichte von der humanistischen Liebe der Deutschen zur griechischen Antike wie folgt zusammen – und vergisst dabei: Luther. »Wer heute zur Antike geht, der legt damit ein Bekenntnis ab. Unser Humanismus ist in hohem Grade ethisch und praktisch gesinnt. Die Linie der Entwicklung unseres Verhältnisses zum Altertum heißt in Deutschland: Winckelmann – Goethe – Hölderlin – Nietzsche. Sie führt vom klassizistischen Formideal zur Kulturkritik.«
Mit all dem hat Werner Jaeger recht und unrecht zugleich. Natürlich beginnt die populäre Liebe der Deutschen zur griechischen Antike mit Winckelmann. Und damit auch der Neuhumanismus der deutschen Klassik. Trotzdem fehlt Luther in Jaegers Namensreihe, seine Liebe zur griechischen Sprache, zum griechischen Text. Zugleich zeigt sich in diesem Fehlen der ungeheure Erfolg Luthers als Mentor einer Bildung, deren Basis Texte sind, Bücher, und deren Alltag die Übersetzung aus dem Lateinischen und Griechischen ist. Er war so durchschlagend, dieser Erfolg, dass sein Urheber, der doch uno actu auch die Klassische Philologie in Deutschland mitbegründete und damit auch am Beginn der Genealogie des Altphilologen Werner Jaeger steht, von diesem einfach verschwiegen werden konnte, ja musste, denn Luther, das war ja bloß Theologie. Aber Luther war es, der das Neue Testament erstmals aus dem griechischen Urtext ins Deutsche übertrug. Deshalb wurde Griechisch zum Bestandteil höherer Bildung im protestantischen Deutschland. Die gemeinsam mit Melanchthon durchgesetzte Bildungsreform führte dazu, dass die Unterrichtung im Griechischen zum Standard für alle wurde, die in der evangelischen Kirche Pastorenamt und Karriere anstrebten.
Dieses durch die Reformation erstmals ermöglichte und dann für Deutschland so typisch gewordene protestantische Bildungswesen ist 200 Jahre später der fruchtbar-karge Nährboden für ein Gewächs, dessen bloße Möglichkeit uns, je genauer wir es betrachten, immer unglaublicher erscheinen muss. Natürlich spreche ich von Johann Joachim Winckelmann, der wenige Wochen nach der Begehung des 200. Jubiläums des Thesenanschlags am 9. Dezember 1717 als Sohn eines Schumachers in Stendal geboren wurde. Ihm haben wir das Jahrbuch 2017 der Klassik Stiftung unter dem Titel ›Die Erfindung des Klassischen – Winckelmann-Lektüren in Weimar‹ gewidmet. Ihm wird die große, am 6. April zu eröffnende Ausstellung im Neuen Museum gewidmet sein. Es gibt, gerade weil es eine zunächst so armselige Geschichte ist, nichts Großartigeres in der deutschen Kulturgeschichte als diese Biographie eines Unterschicht-Kindes aus dem 18. Jahrhundert. Alles, was Winckelmann sich erarbeitete, was er in seinem Leben erreichte, wäre ohne die Reformation völlig undenkbar gewesen. Es ist von Beginn an eine Biographie mit den Büchern und in den Bibliotheken.
Der die Deutschen aus der Finsternis des Nordens und aus der Verstrickung in inner- und außerkonfessionelle theologische Streitigkeiten – Goethe nannte solche Debatten, als er sich um das 300-jährige Reformationsjubiläum zu kümmern hatte, einen ›verworrenen Quark‹ – befreite zur Anschauung der schönen Kunst der Griechen, dieser Begründer der Wissenschaft vom Bild verdankt seine gesamte Bildung dem Luthertum, dessen Büchern und Bildungschancen.
Mit sechs Jahren tritt er in die Elementarschule, mit zehn Jahren in die Lateinschule ein, die für alle, die begabt erscheinen, offen steht, woher sie sozial auch kommen mögen. Mit 14 übernimmt er ein erstes ›evangelisches Amt‹. Die Verbindung von Glauben, Texten und Musik lässt überall im evangelischen Deutschland Kurrenden entstehen, liturgische Musikschulen, die dem strengen Wortgottesdienst der Reformation seinen sinnlichen, eben musikalischen Glanz verleihen: Winckelmann wird Kurrendeschüler. Als er 15 ist, steigt er auf der Leiter aus dem sozialen Nichts seiner Herkunft eine große Sprosse hinauf. Er wird Amanuensis des Rektors der Lateinschule. Für dieses Amt hat nur Verwendung, wer sich als Rektor zugleich als Wissenschaftler versteht. Denn der Amanuensis ist nichts anderes als ein Gehilfe wissenschaftlicher Praxis. Der Schüler Winckelmann hat aus den dickleibigen Büchern die Lektürefunde seines Rektors zu exzerpieren. Dazu braucht es Verständnis und eine gute Schreiberhand. Über beides verfügt der Knabe Winckelmann.
Der Amanuensis aus Stendal wird selbst zu einem der größten Exzerpisten des 18. Jahrhunderts werden. Nur was durch verstehendes Abschreiben angeeignet, was, könnte man sagen, in der Paraphrase des Exzerpts gedanklich nachgeahmt wurde, nur das geht ins Eigentum des Lesers über. Und so sitzen seit 500 Jahren die Menschen, worüber man sich leicht lustig machen kann – und tatsächlich ist die meist spöttische Beschreibung dieser Büchermenschen in der Bibliothek zu einem eigenen Topos der europäischen Literaturgeschichte geworden – ihr Leben im Lesesaal ab wie andere ihre Strafe. Die Beschreibung der Bibliothek als eines Ortes, in dem exzerpiert, verstehend nachgeahmt wird, könnte Gegenstand einer eigenen Anthologie sein.
Die Beschreibung von W. G. Sebald aus seinem letzten abgeschlossenen Roman ›Austerlitz‹ von 2001 wurde von mir hingegen mit Bedacht ausgewählt. Die kuriose Figur, die ihr Leben der Kirchengeschichte geweiht hat, wissend, dass sie niemals ans Ende dieses Werkes gelangen wird, ist die tragische Figur der Buchkultur schlechthin. Ausgewählt aber habe ich die Passage, weil sie in der Bibliothèque Nationale spielt. Denn dort befinden sich auch 18.000 Blatt jener Exzerpte, in die sich die Lektüren Winckelmanns im Laufe seines Lebens verwandelten. Die französische Winckelmann-Forscherin Elisabeth Décultot hat diesen Schatz eines manischen Lese-Lebens erstmals systematisch ausgewertet und ist darüber zur vermutlich fruchtbarsten Anregerin der neueren Winckelmann-Forschung geworden. Die Humboldt-Stiftung ehrte sie mit einer Humboldt-Professur, die Elisabeth Décultot derzeit an der Universität Halle wahrnimmt. Dort entstand die Idee, das Forschungsprojekt in Halle mit einem Ausstellungsprojekt in Weimar zu verbinden. Ein roter Faden windet sich vom Amanuensis Johann Joachim aus dem Jahr 1732 durch die römischen Lektüren des Scriptor Linguae teutonicae und Linguae graecae an der Biblioteca Vaticana, über die Verlagerung seiner Exzerpte nach Frankreich, ihre Verbringung in die Bibliothèque Nationale, bis zur Humboldt-Professur für eine französische Wissenschaftlerin – all dies ist verbunden im Medium des Exzerpts, das der rote Faden der Geisteswissenschaft über Jahrhunderte hinweg gewesen ist: Der Zettelkasten als Lebensform.
Das Schöne an diesen Zettelnaturen aber ist, dass sie immerfort selbst über sich lachen. Dass sie ein Bewusstsein von der Vergeblichkeit ihres Tuns haben. Dass ein halb melancholisch, halb glücklich vor sich hin summendes Mantra der Wörter zu immer wieder neuen Aufbrüchen in die Welt des Geistes anregt. Es sind die Bücher, die Exzerpte, die Polemiken und Traktate das unabschließbare immerzu weiter wuchernde Substrat, in dem die Pflanze des menschlichen Geistes wurzelt. So viel verschenktes Lebensglück, so viele verlorene Chancen. Und alle, fast alle, die in diesem Substrat wurzeln, wissen von ihren Defiziten. Wie schreibt Winckelmann am 25. Juli 1755 im Aufbruch nach Rom an seinen alten Freund Hieronymus Dietrich Berendis:
»Dresden, den 25. Juli 1755. Mein Vaterland vergesse ich gerne, wo ich wenig Vergnügen gefunden habe, und da die erste schönste Hälfte meines Lebens in Kummer und Arbeit vergangen, so will ich auf den schlechteren Rest kein Absehen von Weitläuftigkeit richten. Freyheit und Freundschaft sind beständig der große Endzweck gewesen, der mich in allen Sachen bestimmet hat: die erste habe ich erjaget: und durch diese kann ich hoffen, die andere künftig ohne Abwechslung zu genießen.«
›Kummer und Arbeit‹, das ist zuerst und vor allem das zum Habitus gewordene Hocken in den Lese- und Schreibstuben der Bibliotheken. Aber, und darin sind sie alle verbunden seit jenem großen Aufbruch, den Martin Luther in der befreienden Lektüre des Evangeliums gefunden hatte. Dann und wann blüht aus diesem Kümmer- und Kummerdasein eine unerhörte Blüte: Aus dem Substrat, das aus Lumpen, die zu Papier mutierten, und dem Schwarz der Drucker und Schreiber besteht, tritt die Königin der Nacht hervor, die unnachahmlich und unzerstörbar und neu ist. Diese Erfahrung der Transzendenz aus dem Schwarz der Melancholie in das Licht der neuen Erkenntnis, die Transsubstantiation, die Luther, Winckelmann, Goethes Faust und Nietzsches Morgenröte im Innersten verbinden, sie ist das eigentliche Wunder des europäischen Buches und damit der europäischen Kultur. Gerade dass es diesem kümmerlichen Substrat abgerungen, durch es hindurch zur Blüte gebracht ist, macht die Sinnlichkeit der Beschreibung, die Winckelmann erstmals in die deutsche Sprache einführt, so unnachahmlich und macht ihn zum Morgenlicht, in dem das ›Ereignis Weimar‹, kaum eine Generation nach seinem gewaltsamen Tod, glanzvoll aufgehen wird.
Lassen Sie mich mit einem ganz kurzen Zitat aus Winckelmanns berühmtesten Text, der Beschreibung des Apoll vom Belvedere, schließen. An dieser Beschreibung ist, was das Faktische anbelangt, so gut wie alles falsch; nicht einmal griechisch ist die Figur, die Winckelmann für das schlechthin nicht zu übertreffende Gipfelwerk der griechischen Kunst gehalten hat.
»Ein ewiger Frühling wie in dem glücklichen Elysien bekleidet die reizende Männlichkeit vollkommener Jahre und spielet mit sanften Zärtlichkeiten auf dem stolzen Gebäude seiner Glieder. Gehe mit deinem Geist in das Reich unkörperlicher Schönheiten und versuche ein Schöpfer einer Himmlischen Natur zu werden, um den Geist mit Bildern, die sich über die Materie erheben, zu erfüllen: denn hier ist nichts sterbliches, noch was die Menschliche Dürftigkeit erfordert. Keine Adern noch Sehnen erhitzen und regen diesen Körper, sondern ein Himmlischer Geist, der sich wie ein sanfter Strohm ergossen, hat gleichsam die gantze Umschreibung dieser Figur erfüllet.« (An W. Stosch, August 1757)
So hat vor Winckelmann kein Mensch Deutsch schreiben können. Der Witz, das Neue ist, dass er die äußerste ideelle Aufladung seiner Sätze mit einer sicheren Verankerung im konkret Anschaulichen zu verbinden weiß. Das begeisterte Goethe, der das sprachliche Schwärmertum genauso verachtete wie die pedantische Gelehrsamkeit und den hölzernen Kanzleistil, die Reste und Derivate, zu denen Luthers Sprachmorgen vom Beginn des 16. Jahrhunderts im Laufe von zweihundert Jahren mutiert war. In Goethes wirkmächtigem Buch ›Winckelmann und sein Jahrhundert‹, lesen wir:
»In diesem Sinne haben wir alle Ursache, das Andenken solcher Männer, deren Geist uns unerschöpfliche Stiftungen bereitet, auch von Zeit zu Zeit wieder zu feiern und ihnen ein wohlgemeintes Opfer darzubringen.« (WA I, 46, 16)
So wollen wir es halten!
Mein ganzes Ich ist erschüttert (…): Apollo von Belvedere, warum zeigst du dich in deiner Nacktheit, daß wir uns der unsrigen schämen müssen?