Goethe, Schiller und die Weimarer Klassik
Geheimratsecken: Herrmann und Angela
Goethe ist zurück und wundert sich über ein Europa, das einem Flickenteppich von Kleinstaaten ähnelt. Kurzentschlossen beginnt er, ein Refugee-Epos zu dichten.
»Goethes Flüchtlinge?!: Écrasez l’Infâme!! Wie Herz und Körper stehen bleiben, alle Viertelstunde einmal: und das in Hexametern??!!«
»Genug!« beschied ich Maria empört, riss ihr das Buch aus der Hand und las weiter, was da über mein Werk geschrieben stand: »Das Fließband seiner Scheissverse: da karrt der Schüdderump voll abgemurkster Idyllen, im immer gleichen grobschlächtigen Pumpertakt: pfui Deubel, der Bube!«
»Selber infam«, blaffte ich und stampfte mit hochrotem Kopf durch die Stube. Wie dieser Niemand meine schönen Verse in den Staub zog! Ich beschloss, Erkundigungen über den Schmierfinken, einen gewissen Arno Schmidt, einzuziehen. Er sei selber ein Flüchtling gewesen, hieß es, aus Schlesien vertrieben. Nun gut, kein Grund, mit seinen dürren Literatenbeinchen auf meinem schönen Epos herumzutrampeln. Schließlich war »Herrmann und Dorothea« mein erfolgreichstes Werk nach dem »Werther«.
Auch wusste ich, wovon ich in Hexametern dichtete, schließlich hatte ich schon 1792 bei der Kampagne in Frankreich die Flucht der Deutschen links des Rheins erlebt.
Je mehr die Revolution dort außer Rand und Band geriet, desto zahlreicher flohen die Menschen gen Osten. Und heute? Ich hatte in den Gazetten gelesen vom arabischen Frühling, aus dem längst ein Winter des Missvergnügens geworden war, von dem beständigen Bürgerkrieg der arabischen Brüder, der es an Grausamkeit mit der französischen Revolution aufnehmen konnte; hatte vom traurigen Zug der armen Vertriebnen erfahren, die täglich gen Westen zogen nach Deutschland.
»Auch hier in Weimar kommen jede Woche neue Flüchtlinge an«, erzählte Maria und berichtete von der Hilfsbereitschaft der guten Bürger von Weimar, die tagtäglich Spenden in der Stadtwirtschaft ablieferten. Ich nickte zufrieden, und dachte an die Verse, die ich in »Herrmann und Dorothea« der braven Wirtin in den Mund gelegt hatte, die den eigenen Wäscheschrank plünderte, um den Flüchtlingen Kleider zu schenken:
Doch heute gab ich so gerne
Manches bessere Stück an Überzügen und Hemden;
Denn ich hörte von Kindern und Alten, die nackend daher gehn.
Geben ist Sache des Reichen, und sind die Deutschen nicht reich? Hat nicht ein mildes Schicksal dafür gesorgt, dass sie heute nach schlimmen Kriegen schon lange glücklich in Frieden und Freiheit leben? »Sie tun gut daran, die Armen aufzunehmen nach schmerzlicher Flucht«. Maria nickte, aber ihre Miene war sorgenvoll. »Es gibt auch andere, die schimpfen und hetzen, und viele scheinen Angst zu haben vor den Fremden«. »Das ist natürlich«, erklärte ich.
»Der Mensch hat Angst vor dem, was er nicht kennt, und am wenigsten kennt er die Zukunft. Jeder spaziert nun hinaus, zu schauen der guten Vertriebnen Elend, und niemand bedenkt, dass ihn ein ähnliches Schicksal vielleicht auch einmal treffen kann.
Jetzt aber gilt es nur eins: das Menschliche zu tun.«
»Und wie willst du das diesen bescheuerten Neonazis klarmachen, die vor den Flüchtlingsunterkünften herumpöbeln?«, wollte Maria wissen.
»Ungeschickt und wild sind alle rohe Betrognen«, hielt ich entgegen. »Es ist aber die Aufgabe der Politik, den Bürgern die Wahrheit zu erklären und ihnen gleichzeitig Mut zu machen.«Maria zuckte mit den Schultern. »Die Kanzlerin sagt: Wir schaffen das. Und in Bayern will der Innenminister Hermann die Flüchtlinge vor den Oktoberfestbesuchern schützen – oder umgekehrt!«
»Bayern ist nicht zu berechnen, das war schon zu meiner Zeit so«, entgegnete ich.
Auch hatte ich gehört, dass am Südzipfel der Republik inzwischen die einstmals freien Grenzen wieder geschlossen worden waren. Und nicht nur dort: auch in Österreich, Ungarn und Tschechien waren die Schlagbäume heruntergegangen, so dass Europa mir wieder wie ein Flickenteppich von Kleinstaaten erscheinen mochte.
Doch bin ich selbst zu lange Minister und Geheimer Rat gewesen, um nicht zu wissen, dass die kompliziert Lage der Flüchtlinge kein leicht zu lösenden Problem war. »Die Kunst muss der Politik beispringen«, sagte ich zu Maria, und ging im rhythmischen Schritt die Stube auf und ab.
Schon tot war der Günter Grass, wer sollte den Menschen nun Mut machen? Es hing also wieder an mir, ins Gewissen den Deutschen zu reden.
Schon fiel ich zurück in Hexameter, auch wenn sie noch holperig waren. Und wieder drängte es mich, ein Refugee-Epos zu dichten.
»›Herrmann und Angela‹ heißt es«, erklärte ich Maria, »und handeln wird es davon, wie ein trefflicher Münchner Minister zum Bahnhof Lederhosen bringt.«