Friedrich Nietzsche und der Schneidergehilfe
Was Nietzsche trug, als er sein Idol Richard Wagner zum ersten Mal traf
Am 8. November 1868 begegneten sich Friedrich Nietzsche und Richard Wagner erstmals im Haus von Wagners Schwester Ottilie Brockhaus in Leipzig. Das zunächst enge freundschaftliche Verhältnis, das sich seit diesem Treffen entwickelte, ist weithin bekannt. Weniger bekannt sind die Irrungen und Wirrungen die Nietzsche, aufgeregt seinem Idol bald persönlich gegenüber stehen zu dürfen, im Vorfeld der Begegnung durchlaufen musste. Die folgende Szene, die der Philosoph seinem Freund Erwin Rohne am nächsten Tag schildert, mutet mit ihrem Slapstick-Charakter fast grotesk an:
»In der Meinung, daß eine große Gesellschaft geladen sei, beschloß ich große Toilette zu machen und war froh, daß gerade für den Sonntag mein Schneider mir einen fertigen Ballanzug versprochen hatte.
Es war ein schrecklicher Regen- und Schneetag, man schauderte, ins Freie zu gehn, und so war ich denn zufrieden, daß mich Nachmittags Roscherchen besuchte, mir etwas von den Eleaten erzählte und von dem Gott in der Philosophie […]. Es dämmerte, der Schneider kam nicht und Roscher gieng. Ich begleitete ihn, suchte den Schneider persönlich auf und fand seine Sclaven heftig mit meinem Anzüge beschäftigt: man versprach, in ¾ Stunden ihn zu schicken.
Ich gieng vergnügter Dinge weg, streifte Kintschy, las den Kladderadatsch und fand mit Behagen die Zeitungsnotiz, daß Wagner in der Schweiz sei, daß man aber in München ein schönes Haus für ihn baue: während ich wußte, daß ich ihn heute Abend sehen würde und daß gestern ein Brief vom kleinen König an ihn angekommen sei, mit der Adr.:
›an den großen deutschen Tondichter Richard Wagner.‹
Zu Hause fand ich zwar keinen Schneider, las in aller Gemächlichkeit noch die Dissertation über die Eudocia und wurde nur von Zeit zu Zeit durch gellendes, aber aus der Ferne kommendes Läuten beunruhigt. Endlich wurde mir zur Gewißheit, daß an dem altväterlichen eisernen Gitterthor jemand warte: es war verschlossen, eben so wie die Haustür. Ich schrie über den Garten weg dem Manne zu, er solle in das Naundörfchen kommen: unmöglich, sich bei dem Geplätscher des Regens verständlich zu machen.
Das Haus gerieth in Aufregung, endlich wurde aufgeschlossen, und ein altes Männchen mit einem Paket kam zu mir. Es war halb 7 Uhr; es war Zeit meine Sachen anzuziehn und Toilette zu machen, da ich sehr weit ab wohne. Richtig, der Mann hat meine Sachen, ich probiere sie an, sie passen. Verdächtige Wendung! Er präsentirt die Rechnung. Ich acceptire höflich: er will bezahlt sein, gleich bei Empfang der Sachen. Ich bin erstaunt, setze ihm auseinander, daß ich gar nichts mit ihm als einem Arbeiter für meinen Schneider zu thun habe, sondern nur mit dem Schneider selbst, dem ich den Auftrag gegeben habe. Der Mann wird dringender, die Zeit wird dringender; ich ergreife die Sachen und beginne sie anzuziehn, der Mann ergreift die Sachen und hindert mich sie anzuziehn: Gewalt meiner Seite, Gewalt seiner Seite! Scene.
Ich kämpfe im Hemde: denn ich will die neuen Hosen anziehn.
Endlich Aufwand von Würde, feierliche Drohung, Verwünschung meines Schneiders und seines Helfershelfers, Racheschwur: während dem entfernt sich das Männchen mit meinen Sachen. Ende des 2ten Aktes:
ich brüte im Hemde auf dem Sofa und betrachte einen schwarzen Rock, ob er für Richard gut genug ist.
— Draußen gießt der Regen. —
Ein viertel auf Acht: um halb acht, habe ich mit Windisch verabredet, wollen wir uns im Theatercafé treffen. Ich stürme in die finstre regnerische Nacht hinaus, auch ein schwarzes Männchen, ohne Frack, doch in gesteigerter Romanstimmung: das Glück ist günstig, selbst die Schneiderscene hat etwas Ungeheuerlich-Unalltägliches.«
Nietzsches Nachlass
Anlässlich des 170. Geburtstages von Friedrich Nietzsche präsentiert die Klassik Stiftung Weimar vom 8. August bis 18. Dezember 2014 im Goethe- und Schiller-Archiv eine Kabinettausstellung zum Nachlass des Philosophen. In den kommenden Wochen berichten wir im Blog von kleinen Entdeckungen am Rande der Ausstellung.