Goethe, Schiller und die Weimarer Klassik · Kosmos Weimar
Amor in Weimar
Als im Juni 1795 Goethes Römische Elegien im sechsten Stück der Horen erscheinen, sorgen sie unter den Lesern für Tumult. Carl August Böttiger befindet:
»Es brennt eine genialische Dichterglut darinnen, und sie stehn in unserer Literatur einzig. Aber alle ehrbaren Frauen sind empört über die bordellmäßige Nacktheit. Herder sagte sehr schön, er habe der Frechheit ein kaiserliches Insigel aufgedrückt. Die Horen, müßten nun mit dem u gedruckt werden. Die meisten Elegien sind bei seiner Rückkunft im ersten Rausche mit der Dame Vulpius geschrieben.«
Die Elegien sind ein Skandalon, weil sie als authentische Lebenszeugnisse des Verfassers gelesen werden – und weil die in ihnen gefeierte Erotik keine ist, die mit dem im 18. Jahrhundert vorherrschenden Ideal inniger Seelenliebe vereinbar scheint. Die sonst so uneingeschränkte Vorbildlichkeit der antiken Kultur stößt in Liebesdingen immer wieder an Grenzen, und nicht zuletzt aus diesen Grenzgängen resultiert das Vergnügen, mit dem Dichter und Übersetzer sich daran machen, den sinnenfreudigen antiken Amor auch im Weimar der Goethezeit einzubürgern. Zwei dieser Grenzgänger sind Carl Ludwig von Knebel und Johann Isaac von Gerning.
In einem Brief an Knebel berichtet Goethe im Oktober 1815 von ungewöhnlicher Lektüre in den Händen der jungen Prinzessinnen. Sie haben von Johann Isaak von Gerning einen Band mit Erotischen Gedichten des Ovid erhalten, die Goethes Frankfurter »Stadtgenosse« übersetzt hat. Goethe schreibt:
»Es ist nichts lustiger, als wenn [Gerning] mit einem solchen Exemplar den jungen Prinzessinnen ein Geschenk macht, die eigentlich nicht wissen, was es heißen soll, wenn die älteren Damen es mit einer schicklichen Miene zu ignoriren suchen.«
Fünf Monate zuvor, im Mai 1815, hatte Knebel dem Übersetzer für das übersandte Exemplar der Erotischen Gedichte gedankt und ihm gestanden:
»Ich möchte mich nicht an diese Arbeit gewagt haben, denn, ich gestehe es, sie ist über meinem Vermögen, wegen der eigenen Zierlichkeit und Feinheit des mannichfaltigen Gegenstandes.«
Man könnte nun überlegen, was genau die »Feinheit des mannichfaltigen Gegenstandes« bedeuten soll, an die Knebel sich nicht gewagt hätte. Denn er selbst hatte 1798 Übersetzungen von 36 Elegien des römischen Dichters Properz veröffentlicht, eines Zeitgenossen Ovids unter Kaiser Augustus, dessen Dichtungen weitaus sperriger waren als die von Ovid. Knebel allerdings hatte in seiner Übersetzung die erotisch eindeutigen Elegien Properz’ ausgelassen und dessen Bekanntschaft mit Ovid möglichst heruntergespielt. Denn dieser, dessen Todesjahr sich 2017 gerade zum 2000. Mal jährt, war moralisch eher übel beleumundet: Der Verfasser der Metamorphosen und zahlreicher Liebesdichtungen wurde aus nie ganz geklärten Gründen von Kaiser Augustus in die Verbannung ans Schwarze Meer geschickt, und als Vorwand für die Relegation des Dichters wurde auch die Unzüchtigkeit seiner Liebesdichtungen angegeben (aber meist stark bezweifelt). Wollte man erotische Dichtung um 1800 legitimieren, war es also etwas heikel, sich gerade auf Ovid zu berufen.
Doch was steht nun in dem Band mit Übersetzungen, den die Prinzessinnen da lesen? Beispielsweise eine Elegie mit dem Titel »Der Ring«. Sie lässt sich als virtuoses Spiel mit der literarischen Tradition von antiken Weihgedichten verstehen, die auf (fiktiven) Opfergaben die damit verbundene Bitte oder den Anlass zum Dank formulierten. Das Ich des Gedichts will also seiner Geliebten einen Ring schenken und spricht diesen direkt an. Er stellt sich vor, wie die Beschenkte den Ring über ihren Finger streift – und beneidet ihn sogleich, weil das Schmuckstück ja nun beständig am Körper der Dame getragen werde:
»Oft berührtest dann du, – der Gebieterinn schwellenden Busen, | Und mit der Linken geheim schlüpftest du in das Gewand.«
Das Ich stellt sich vor, wie der Ring sich vom Finger löst und sich der Geliebten »wundersam […] in den Schooß« fallen lässt, oder wie sie mit dem Ring Briefe siegelt. Dazu müsste sie den Ring mit seinem geschnittenen Stein aber erst an ihre Lippen führen und ihn anfeuchten – um dann bitte nur angenehme Nachrichten an das Ich zu versenden:
»Also müßte denn auch, um zärtliche Briefchen zu siegeln, | Daß nicht sauge das Wachs trockenes Gemmengestein, | Mich mit dem kußlichen Munde zuerst anfeuchten mein Liebchen, | Nur doch siegle sie nicht Blätter zum Leide für mich.«
Besonders genießt das Ich die Vorstellung, wie der Ring als sein alter ego die Geliebte ins Bad begleiten würde:
»Trage Du mich, wenn die Glieder Du senkst in das laue Gewässer, | […] Aber enthüllt Dich zu seh’n, wird wohl entflammen die Lust mir, | Und ich verträt’ als Ring selber mein männliches Amt.«
Ovids Gedicht enthielt bereits unter den freizügigeren Bedingungen im antiken Rom ein pikantes Spiel mit den etablierten Geschlechterrollen und deren aktivem und passivem Part. Nun ist Gernings Übersetzung leicht entschärft. Bei Ovid wird unter anderem keine ›Lust entflammt‹, sondern das Ich stellt sich recht deutlich vor, wie sich beim Anblick der unbekleideten Geliebten ›vor Lust seine Glieder erheben‹ würden (ja, das steht im Plural) und er dann (als Ring) seine Rolle als Mann bis zum Ende spielen würde. Des Weiteren gibt es in Gernings Band eine Elegie, in der das Ich seine Potenz preist, mit der es auch zwei Frauen glücklich machen könne, ohne am nächsten Morgen Spuren der Ermüdung zu zeigen, oder die Empfehlung, wie eine kränkelnde Geliebte am besten mit einem »kräftigen Balsam« zu heilen sei. Es bleiben also genügend Stellen, die in den Händen der Prinzessinnen eher ungewöhnliche Lektüre gewesen sein mögen.
Knebel teilt Goethes schelmische Freude über das Buchgeschenk. Um den erotischen Bildungsstand von Weimars weiblicher Bevölkerung anzuheben, wird auch er aktiv. Im Oktober 1815 schreibt er an Goethe, Gerning hätte ihm noch »ein Paar der Exemplare« seiner Erotischen Gedichte des Ovid geschickt, und nun versuche auch Knebel, sie »unter die jungen Damen zu bringen, damit hoffentlich des Uebersetzers Endzweck erfüllt werde in dem, was ihm selbst nicht recht hat gelingen wollen«. Was er damit meint, steht in einem Brief von Goethes Mutter. Sie berichtet ihrem Sohn im September 1807 aus Frankfurt von einer ungewöhnlichen Begebenheit:
»Der Herr Geheimde Rath von Gerning hat einen Geistigen Umgang mit einer empfindsamen wittwe – verspricht sich mit ihr – wird in der Kirche dem Gebrauch nach aufgebothen – wird aber so offte das wort Coupolation ausgesprochen wird ohnmächtig – sie scheiden [freundschaftlich] von einander«
Nach dieser Flucht vom Altar versuchte Gerning nie wieder zu heiraten.
Dr. Charlotte Kurbjuhn ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für deutsche Literatur der Humboldt-Universität zu Berlin. An der Klassik Stiftung Weimar forschte sie ein halbes Jahr zu Carl Ludwig von Knebel; im Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 2016 erschien ihr Aufsatz »Knebels Autonomie. Elegien und Epikureismus im klassischen Weimar (1798-1800)«. Am Goethe-Geburtstag 2017 hielt sie beim Freundeskreis des Goethe-Nationalmuseums einen Festvortrag über »Amor in Weimar – Goethe, Knebel, Gerning«. Derzeit arbeitet sie auch an Studien zu Knebel und Gerning.